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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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zu entschuldigen, daß man das nicht konnte. Jetzt, neben dieser Frau sitzend, der er sich noch vor einer Stunde beinahe anvertraut hätte, gelang ihm, nein: stieß ihm etwas zu, was der Erfüllung seines Wunsches, von außen gesehen, täuschend ähnlich sah: Ihre Frage kam ihm so bedrohlich vor, daß er nicht nur eine Leere der Unwissenheit empfand, sondern auch ein lähmendes Entsetzen bei dem Gedanken, mit einer Antwort weiter an dem Lügengespinst seiner falschen Identität zu stricken; und so schwieg er in der Pose des Nachdenklichen. Beschämt und doch auch wieder mit einem Anflug von Galgenhumor, mit dem er sich gegen das Entsetzen wehrte, stellte er dann fest, daß es klappte: Als sei die Stille einer unbeantworteten Frage das Natürlichste der Welt, fing Evelyn Mistral selbst an, Antworten auf ihre Frage auszuprobieren.
    Gerade als der Moment in Sicht kam, wo er sich dann doch hätte äußern müssen, gingen von Levetzov und Millar auf der anderen Straßenseite vorbei. Von Levetzov winkte, sagte etwas zu Millar, und bevor sie um die Ecke bogen, drehten sie sich beide noch einmal um. Evelyn Mistral strich sich das Haar aus dem Gesicht und lächelte spöttisch, als die beiden verschwunden waren. Dann sah sie auf die Uhr und sagte, sie müsse noch etwas arbeiten, bis zu ihrer Sitzung seien es ja nur noch zweieinhalb Wochen, und bis dahin wolle sie die beiden Buchkapitel, um die es gehen werde, überarbeiten.
    «Glaubst du, es reicht, wenn ich die Texte am Freitag vorher zum Kopieren gebe?»
    Perlmann nickte.
    Sie werde in der Sitzung sicher furchtbar nervös sein, meinte sie.«In einem derart illustren Kreis!»
     
    Als Perlmann nachher, fast zur selben Zeit wie am Vortag, den Glasperlenvorhang teilte und die Trattoria betrat, begann der Regen auf das Glasdach zu trommeln. Die Wirtsleute begrüßten ihn wie einen alten Bekannten, brachten ihm eine Bohnensuppe und danach Huhn, und als Sandra später den Kaffee vor ihn hinstellte, kam der Wirt und legte die Chronik dazu, als sei das ein seit Jahren eingeübtes Ritual.
    Perlmann hatte sich während des Essens vorgestellt, wie Evelyn Mistral und Giorgio Silvestri zusammen redeten, spielerisch die Sprache wechselnd und scherzend, und es hatte ihm einen Stich gegeben. Jetzt schob er diese Vorstellung beiseite und schlug das Jahr auf, in dem er die Ausbildung zum Pianisten abgebrochen hatte.
    In den ersten Tagen des Jahres war Albert Camus tödlich verunglückt, Perlmann erinnerte sich dunkel an die Verständnislosigkeit, auf die seine Aufregung zu Hause gestoßen war. Erst Jahre später, als er La Peste zum erstenmal ganz las, ging ihm auf, wieviel Unverstandenes in der damaligen Aufregung gelegen hatte und wie sehr sie doch auch etwas von einer Mode an sich gehabt hatte.
    Er blätterte weiter. Mit der Zündung der ersten Plutoniumbombe in der Sahara war Frankreich in den Kreis der Atommächte eingetreten. Leonid Breschnew wurde neuer sowjetischer Staatspräsident. Der Erfolg von Fellinis La dolce vita in Cannes. Anita Ekberg im Fontane di Trevi. Die Israelis entführten Eichmann. Vor allen Dingen sei das ungesetzlich, hatte der Vater gesagt. Im Zuchthaus von St.Quentin wurde Caryl Chessman hingerichtet, nachdem die Vollstreckung des Todesurteils achtmal aufgeschoben worden war. Die Olympischen Spiele in Rom; aber nicht dort war Armin Hary die 10,0 gelaufen, sondern vorher in Zürich.
    Für den September brachte die Chronik außer dem italienischen Medaillenspiegel kaum etwas. In jenem Monat war seine Entscheidung gefallen, an einem der letzten Tage, das genaue Datum wußte er nicht mehr. Er sah den kahlen Raum im Konservatorium vor sich, und jener folgenreiche Moment war in der Erinnerung auch heute, gut dreißig Jahre später, noch sehr lebendig, gegenwärtig bis in alle Einzelheiten, als sei er damals mit aller Macht ins Gedächtnis eingestanzt worden.
    Es war am frühen Nachmittag eines regnerischen Tages gewesen, bei einem Licht, bei dem die Zeit stillzustehen schien und doch keine Gegenwart besaß, oder nur eine tote Gegenwart. Er hatte wieder einmal an Chopins Polonaise in As-Dur gearbeitet. Sie war eine der ersten Kompositionen für Klavier, die er kennengelernt hatte, und für lange Zeit war sie sein Lieblingsstück gewesen. Inzwischen jedoch war sie auch ein gehaßtes Stück, denn sie hatte eine Angststelle, an der er fast nie sicher vorbeikam. Er hatte sie zahllose Male durchbuchstabiert, Finger für Finger, aber es war, als habe das motorische Gedächtnis

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