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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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für diese eine Stelle aus unerfindlichen Gründen eine Sperre, so daß die Befehle vom Gehirn an die Finger nicht entschieden und eindeutig waren, sondern zögerlich und verwischt.
    An jenem Nachmittag war die fragliche Passage zu seinem Erstaunen gleich beim erstenmal glattgegangen. Er hatte sich gefreut, war aber aus Erfahrung zunächst skeptisch geblieben. Er beeilte sich, diesen Erfolg zu wiederholen und den Bewegungsablauf endlich ein für allemal einzuritzen. Auch beim zweiten- und drittenmal lief es, und beim viertenmal fühlte es sich beinahe schon an wie eine gut verankerte Routine. Er hatte das Gefühl, es endlich geschafft zu haben, und ging ins Foyer hinunter, um sich eine Zigarette zu gönnen.
    Als er, wieder am Flügel, seine neu gewonnene Sicherheit überprüfen wollte, verhedderte er sich sofort. Er probierte es noch ein paarmal, aber es ging überhaupt nichts mehr. Da zündete er sich, vor den Tasten sitzend, erneut eine Zigarette an, was strikt verboten war, und rauchte sie ruhig zu Ende, die Schachtel als Aschenbecher benutzend. Dann schloß er behutsam den Deckel über der Tastatur und öffnete das Fenster. Bevor er hinausging, betrachtete er das kleine Bild von Paul Klee, das, weil es das einzige Bild war, die Kahlheit des Raumes nur noch betonte. Es lag direkt in der Blickrichtung des Spielenden. Er würde es vermissen.
    Es war nicht so, dachte Perlmann, daß ihm damals einfach der Geduldsfaden gerissen war. Er war ganz ruhig, ohne inneren Aufruhr, den Korridor entlang zum Zimmer von Bela Szabo gegangen und später die Treppe hinauf zum Direktor. Auch wäre es irreführend zu sagen, dachte er, daß er die Ausbildung wegen der Niederlage bei der As-Dur-Polonaise abgebrochen hatte. Was an jenem Nachmittag geschah, war einfach, daß ein kompliziertes inneres Kräftespiel, das seit vielen Monaten im Gange war – bestimmt von ganz verschiedenartigen Erfahrungen, die er mit sich als Pianisten machte, und von Zweifeln sehr unterschiedlicher Art -, zum Stillstand kam in einer endgültigen, unwiderruflichen Klarheit über die Grenzen seiner Begabung. Wenn er sich sagte, daß in jenem Augenblick die Entscheidung fiel, so konnte, schien es ihm, damit nichts anderes gemeint sein als das Eintreten dieses Stillstands, das Aufhören des inneren Schwankens. Es gab darüber hinaus nicht noch eine innere Handlung des Entscheidens, die hinzugekommen wäre und zwischen dem inneren Zustand und den nachfolgenden äußeren Handlungen vermittelt hätte.
    Bela Szabo hatte seinen Entschluß für einen Fehler gehalten, zumindest für verfrüht. Er war darin einer Meinung mit den Eltern gewesen, die es schade fanden und eigentlich auch undankbar, daß er seine künstlerische Zukunft, in die sie so viel investiert hatten, einfach wegwarf. Aber er fühlte sich vollkommen sicher in seinem Urteil und war nicht umzustimmen. Er spürte es in den Händen, in den Armen, und manchmal berührte es ihn sogar wie eine Gewißheit des gesamten Körpers: Zu mehr als zum Klavierlehrer würde es nie und nimmer reichen. Er war stolz darauf, zu einer derart nüchternen Einsicht fähig zu sein, und setzte alles daran, seinen Entschluß nicht zu einem Drama werden zu lassen. Gleichwohl war eine Wunde geblieben, die nie ganz vernarbt war und die er als Quelle persönlicher Unsicherheit empfand.
    Nach dem Abbruch hatte er mehrere Jahre lang keinen Ton gespielt und keinen Konzertsaal betreten. Erst Agnes hatte ihn wieder bewegen können zu spielen. Sie kauften einen Flügel, und nach und nach fand er wieder in Chopin hinein, der ursprünglich den Wunsch in ihm geweckt hatte, Klavierspielen zu lernen. Die Polonaise in As-Dur freilich versuchte er nie wieder. Nach Agnes’ Tod dann mied er den Flügel. Er hatte Angst, die Töne würden alle Dämme brechen und er würde kitschig spielen. Das war etwas, was er nicht ertragen hätte, nicht einmal, wenn er mit sich allein war.
    Perlmann gab Sandra ein großes Trinkgeld, als sie ihm die Zigaretten brachte, die sie an der Piazza Veneto geholt hatte. Dann blätterte er weiter. Chruschtschow, der in der UNO mit dem Schuh auf den Tisch klopfte. Begierig las er den Artikel über seine Forderungen und den Mißerfolg seiner Reise. Und die nächsten zwei Seiten, die ganz John F. Kennedys Wahl zum Präsidenten gewidmet waren, verschlang er, als stünden darin Offenbarungen über sein eigenes Leben.
    Als sich das Lokal zu füllen begann, sah er kaum auf, sondern wechselte nur verärgert auf die andere Seite des

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