Persephones Erbe (German Edition)
Straßen. Um diese Tageszeit waren die Vorstädte menschenleer, wer einen Job hatte, war in der Arbeit. Es war ein Nürnberg, das ich kaum kannte. Siedlungen von Einfamilienhäusern, dazwischen Gärten. Die Südwesttangente passierten wir auf einer Unterführung. Danach kamen wieder Siedlungshäuser. Ich las: Rothenburger Straße.
Mein Geistermädchen hörte noch einmal das Märchen von Hänsel und Gretel, das ich auf dem Weg in den Supermarkt und zurück erzählt hatte. Über Zachis BMW spannte sich ein makellos blauer Frühlingshimmel, aber kalt. Vier Grad plus, die Anzeige im Armaturenbrett warnte vor Bodenfrost.
Hänsel und Gretel fanden das Hexenhäuschen. Sie aßen Lebkuchen.
Knusper, knusper, knäuschen. wer knuspert an meinem Häuschen?
Das Geisterkind kicherte.
Das war die Gretel! Oder der Hänsel
.
Wie heißt du denn? Mit Nachnamen?
Du musst erst das Märchen zu Ende erzählen, Tante!
Aber ich ahnte schon: Laura war zu klein. Sie wusste ihren Familiennamen nicht. Nicht einmal was das war. Und ihre Mutter war die Mami.
Ich erzählte, wie die Hexe Hänsel in einen Stall sperrte und mästete und wie Gretel arbeiten musste. Dass der Junge die Hexe, die keine Brille hatte, mit einem abgenagten Hühnerbein täuschte, statt seines Fingers.
Die böse Tante hat auch keine Brille auf gehabt
.
War sie auch eine Hexe?
Jaaa
.
Das Geistchen seufzte.
Schmerz steckte mir in der Kehle. Wie konnte man einem Kind so etwas antun! Laura lag in einem Sarg, aber da gab es noch ein anderes kleines Mädchen. Das saß in Malchows Wohnzimmer, als Dekoration.
Wo? Wo bin ich?
Ich hatte die Andere aufgeweckt. Ihr Schrecken ließ mir die Haare zu Berge stehen. Ich dachte hastig wieder an das Märchen. Wie Gretel die Hexe überredete, selbst nachzusehen, ob der Ofen rein genug gefegt war. Wie sie Gretel ein dummes Ding nannte, und zuletzt doch selbst hinein kroch.
… und da warf Gretel die Ofentüre zu und verriegelte sie. Und die böse Hexe verbrannte elendiglich
.
Das Geisterkind lachte glücklich.
Erzähl das noch mal, Tante!
Ich erzählte noch einmal, wie die Hexe gestorben war.
Wir bogen in die Bandersbacher Straße ein.
»Wir sind fast da«, sagte Zachi leise.
Noch ein Märchen, Tante!
Schätzchen, du musst jetzt eine Weile Ruhe geben
.
Ich bin aber gar nicht müde
…
Schau, Schätzchen, Laura, ich muss jetzt mit anderen Leuten reden. Ich habe erst später wieder für dich Zeit. Und dann schicke ich dich schlafen
.
Für immer.
Ich muss aber auf die Kleinen aufpassen!
Wen?
Na, die Kleinen eben! Du bist aber dumm
.
Das Dilemma war, ich konnte die Kinderstimmen in meinem Kopf nicht unterscheiden. Sie entsprachen einfach nur meiner Vorstellung von Kinderstimmen. Deshalb klangen alle kleinen Mädchen für mich gleich.
Vor uns tauchte das Ortsende von Zirndorf auf. Es war inzwischen fast drei. Die Bandersbacher Straße führte an dem Waldstück vorbei, in dem die Malchow-Villa lag und dahinter zum Sportplatz. Dort bog Zachi ein. Links des einfachen hellen Gebäudes ragte ein mit hohen Büschen bewachsener Hügel auf. Ich wusste, dass darunter Felsenkeller lagen. Ein Teil der Felsenkeller unter Malchows Reich. Die Fäulnis, die von dort zu mir wehte, ließ mich würgen.
Zachi hielt blitzschnell. Ich fiel fast aus dem Auto, so eilig bewegte ich mich an den Straßenrand. Doch im Freien ließ der Brechreiz zum Glück rasch nach.
Der Grasstreifen neben dem Sportheim war vollgestellt. Ein Privatwagen und vier Einsatzfahrzeuge der Polizei parkten neben dem Haus. Es war sehr sonnig, doch es wehte ein eisiger Wind. Die Schafe, die auf der Wiese neben Zachis Auto weideten, waren um ihre dicke Wolle zu beneiden. Aber ihr junger Hirte hielt es mit bloßen Armen aus. Er grinste, als er meinen Blick bemerkte. Die weißen Zähne in dem dunklen Bart erinnerten mich an Agreo.
Ach, die Faune! Ich sehnte mich einen unvernünftigen Augenblick lang sehr nach ihnen. Alles wäre mir jetzt lieber gewesen als die Begegnung, die mir tatsächlich bevorstand.
»Bringen wir es hinter uns.«
Ich ging Zachi zum Sportheim voraus. Neun Menschen warteten vor der Schmalseite des Hauses. Armin stand zwischen zwei Polizisten. Er lächelte, als er mich sah. Er wirkte ein bisschen übernächtig, aber nicht, als ob er sich große Sorgen machte. Er war auch nicht gefesselt. Was alles und nichts heißen konnte. Auf alle Fälle lächelte ich zurück.
»Darf ich vorstellen: Katinka Friedrich.«
Zachi Ton verbarg nicht, dass er stinksauer über
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