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Personenschaden

Personenschaden

Titel: Personenschaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Probst
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in sich hineinschütteten, um sich später keine teuren Cocktails kaufen zu müssen. Am Ende des Bahnsteigs stand eine schwankende Gestalt und pinkelte aufs Gleis. Der Lokführer gab das Warnsignal und hielt den Atem an.
    Der Junge machte vor Schreck einen Satz nach hinten.
    Jetzt hat der Arme eine nasse Hose, dachte Engler und drückte schmunzelnd den Sifa-Taster. Er erinnerte sich noch gut an den Ausbilder, der ihnen diese Sicherheitsfahrschaltung damals erklärt hatte. »Der Totmannknopf, Leute, ist euer bester Freund. Er sorgt dafür, dass ihr nicht einpennt oder zwangsgebremst werdet, wenn euch im Führerstand der Schlag treffen sollte.«
    Engler stutzte. Wie war das eigentlich bei seinem Unfall gewesen? Wann hatte er den Taster da zum letzten Mal gedrückt? Er konnte sich nicht entsinnen.
     
    Wieder flog ein Bahnhof vorbei. Engler hatte die Münchner Stadtgrenze erreicht. Plötzlich ging sein Atem schneller und seine Hände wurden feucht. Die alte, fixe Idee war zurückgekehrt, der verbotene Gedanke daran, wie winzig sein Handlungsspielraum war. Ein Auto oder ein Flugzeug konnte einem Hindernis ausweichen, ein Zug nie. Er entgleiste höchstens und die Folgen waren entsetzlich.
    Das Gefühl, dass nicht er den Zug fuhr, sondern der Zug ihn, wurde übermächtig. Er hatte doch kaum einen Einfluss darauf, ob die Lok ihn ans Ziel brachte oder mit ihm unaufhaltsam in die Katastrophe raste.
    Was war, wenn irgendwo auf der Strecke ein Stück Schiene fehlte? Vielleicht waren Gleisarbeiter in die Mittagspause gegangen und hatten bei ihrer Rückkehr versehentlich an einer anderen Stelle weitergemacht.
    Engler wischte sich mit einer fahrigen Bewegung über die Stirn, als könne er die bösen Gedanken so vertreiben. Ich hätte mir doch mehr Zeit geben sollen, dachte er.
     
    Zwischen den Weichen blühten wilde Rosensträucher. Hier, mitten in der Stadt, sah er oft Hasen, Füchse und sogar Dachse. Das Vorsignal kündigte eine Langsamfahrstelle an. Sie war neu. Die Geschwindigkeitstafel zwang ihn, den Zug auf sechzig Stundenkilometer herunterzubremsen.
    Das verstand die Bahn unter Wirtschaftlichkeit. Statt aufwändiger Sanierungen stellte man lieber billige Schilder auf. Damit wegen der vielen, nur noch langsam befahrbaren Streckenabschnitte keine Fahrten gestrichen werden mussten, verkürzte man eben die Vorbereitungs- und Wartungszeiten. Sein Vater war über diese Entwicklungen so erbost, dass er den Bahnvorstand samt Aufsichtsrat am liebsten zur Viehwagenreinigung geschickt hätte, wo er sich selbst damals mit kaum fünfzehn Jahren seine ersten Sporen verdient hatte.
     
    Der Zug nahm wieder an Fahrt auf. Vom Bahnhof München-Laim hätte Klaus Engler bequem zu Fuß nach Hause gehen können, bis zur Siedlung waren es keine zwei Kilometer. Er dachte wieder an Anna. Wie viele Nächte hatte sie allein im Ehebett gelegen, während er hier vorbeifuhr. Obwohl, es hatte auch eine Zeit gegeben, da war sie nicht allein gewesen, wie sie ihm irgendwann gestanden hatte. Aber auch damals hatten sie sich wieder zusammengerauft. Ich liebe dich, Anna, flüsterte Klaus Engler.
    Es war immer noch heiß, viel zu heiß für die Uhrzeit. Auf der linken Seite tauchte eine große, hell erleuchtete Nachtbaustelle auf. Engler fuhr, wie vorgeschrieben, exakt achtzig Stundenkilometer schnell. Es war nicht mehr weit bis zur Abzweigung nach Süden.
     
    Der Mann kam aus dem Dunkeln. Er trat mit erhobenen Armen von rechts aufs Gleis. Klaus Engler hatte noch die Geistesgegenwart, die Schnellbremsung einzuleiten, und gab ununterbrochen Warnsignale. Die Lichter auf den Armaturen vor ihm spielten verrückt.
    Dann verlangsamte sich die Zeit. Der Mann war jetzt ganz nah und sah ihn an. Sein Gesicht war jung und weich, sein Blick flehend. Niemand kann aus seinem Gleis, schoss es Engler durch den Kopf. Dann verschwand der Selbstmörder nach unten aus seinem Gesichtsfeld. Engler wollte noch die Hände vor die Ohren halten, aber da hörte er schon das Bersten des Körpers und die wie dürres Holz splitternden Knochen.
     
    Als acht Minuten später ein Sanitäter in den Führerraum der 140er trat, saß Engler mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl und drückte die Zeigefinger in die Ohren. Er summte leise vor sich hin – keine Melodie, nur immer denselben Ton, als könne er damit dieses entsetzliche Geräusch überdecken.
    »Keine sichtbaren Verletzungen«, rief der Sanitäter und verschwand wieder.
    Mitarbeiter der Bundespolizei trafen ein, die Unfallstelle

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