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Personenschaden

Personenschaden

Titel: Personenschaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Probst
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auf die Rückbank.
    In der hell getünchten Halle verloren sich etwa fünfzig Menschen. Sie standen allein oder in kleinen Gruppen vor großformatigen, schwarz-weißen Fotos. Auf den meisten waren Züge der Deutschen Reichsbahn zu sehen. Eine Lokomotive pustete ihren Dampf in eine romantische Mittelgebirgslandschaft, lachende Soldaten winkten aus den Fenstern eines Eisenbahnwaggons, auf einem Bahnsteig hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Die dick vermummten Menschen stiegen in einen Waggon. Sah man genauer hin, erkannte man auf ihren Mänteln Judensterne. Mitglieder der Gestapo überwachten den reibungslosen Ablauf. Es sah nicht so aus, als hätten sie viel Arbeit: Niemand schien sich gegen den Abtransport zu wehren. »Bahnhof Milbertshofen, 20.   November 1941« stand auf einer Tafel neben dem Foto.
    Schwarz wartete, bis zwei Stadträte, deren Gesichter er aus der Zeitung kannte, ihren Rundgang fortsetzten, ehe er sich dem nächsten, ebenfalls 1941 in einem Barackenlager an der Knorrstraße aufgenommenen Foto widmete. Es zeigte eine Mutter, die ein Kleiderbündel zusammenschnürte. Ihre vielleicht fünfzehnjährige Tochter lieh ihr dabei den Finger, damit der Knoten besser hielt. Das Mädchen war mit seinen dunklen Locken und den ebenmäßigen Gesichtszügen auffallend hübsch. Aber das war nicht der Grund, weshalb Schwarz den Blick nicht von ihr lassen konnte. Es waren ihre tiefen, dunklen Augen, in denen sich ein Vorwissen der nahen Katastrophe zu spiegeln schien.
    Schwarz las den Text neben dem Foto: »Erna und Rosa Mittereder wurden fünf Tage nach ihrer Deportation in Waggons der Deutschen Reichsbahn nach Kaunas, Litauen, zusammen mit tausend anderen Münchner Juden in einer Massenerschießung ermordet.«
     
    »Meine Damen und Herren, liebe Freunde, liebe Unterstützer.« Schwarz erkannte Rudi Englers Stimme. Die Besucher strebten zur Stirnseite der Halle, wo der alte Eisenbahner zum Mikrophon gegriffen hatte. Die linke Hand in der Hosentasche, wartete er, bis sich alle um ihn versammelt hatten.
    Schwarz sah die zweite Bürgermeisterin der Stadt, die ihren offenbar verhinderten Chef vertrat. Er entdeckte Gesichter, die ihm schon auf der Demonstration gegen von Medingens neue rechte Partei vor mehr als zwei Monaten aufgefallen waren. Eine Schulklasse war mit ihrer Lehrerin gekommen, bei einigen Rentnern handelte es sich vermutlich um ehemalige Kollegen Englers aus dem Eisenbahner-Milieu. Der offizielle Vertreter der Bahn traf mit leichter Verspätung ein – es war Thomas Engler.
    »Ich kann besser kämpfen als reden«, begann dessen Großvater. »Zum Glück muss ich sagen, denn sonst würde es diese Ausstellung nicht geben. Angefangen hat alles – Sie werden es kaum glauben – vor acht Jahren, als ich in meiner Stammwirtschaft, dem ›Lokschuppen‹, mal wieder von alten Kollegen auf den Arm genommen wurde. Die wenigsten haben ja verstanden, warum ich öffentlich erklärt habe, ich würde mich eher erschießen lassen, als einen Transport Richtung Osten zu fahren, und noch weniger, warum ich mit diesem Spruch seinerzeit meinen Beruf als Lokführer bewusst aufs Spiel gesetzt habe. Meine lieben Freunde aus dem ›Lokschup pen ‹ also – einige sind heute hier – sind schuld an dieser Ausstellung. An jenem Abend vor acht Jahren nämlich habe ich mir gedacht, ich muss etwas auf die Beine stellen, bevor kein junger Mensch mehr weiß, was ich mit diesen
Transporten
überhaupt gemeint habe.«
    Er räusperte sich, jemand reichte ihm ein Glas Wasser.
    »Ich sage nicht viel zum Inhalt der Ausstellung, ich glaube, sie erklärt sich selbst. Tatsache ist, dass der Massenmord anden europäischen Juden ohne die bereitwillige Unterstützung der Bahn und ihrer Eisenbahner nie durchführbar gewesen wäre. Millionen Juden, die in den Vernichtungslagern im Osten starben, wurden von der Reichsbahn dorthin transportiert. Es geht hier nicht um Wiedergutmachung – schon das Wort ist angesichts des Völkermords absurd – es geht darum, ein Bewusstsein für die Geschichte und Tradition unserer deutschen Bahn zu schaffen.«
    Er hielt Ausschau nach seinem Enkel, entdeckte ihn in der zweiten Reihe und nickte ihm mit einem Schmunzeln zu. »Was jetzt kommt, wird den Herrn, der heute Abend die Bahn offiziell vertritt, nicht sehr freuen. Trotzdem herzlich willkommen, Thomas.«
    Er ließ sich noch einmal das Wasserglas reichen und konzentrierte sich. »Die Geschichte dieser Ausstellung ist ein langer Kampf gegen Widerstände und

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