Personenschaden
Irgendwo auf dieser etwa hundert Meter langen Strecke hatte Achim Grenzebach sein Bein verloren. Schwarz ließ den Blick nicht vom Boden. Er machte sich keine Hoffnungen, nach zehn Jahren noch Spuren zu finden, aber er wollte das Unglück möglichst intensiv nacherleben.
Er blieb stehen und stellte sich die einfahrende S-Bahn vor: Im Führerstand drückte Anna ihrem Klaus einen Kuss auf den Mund. Nur zwei, drei Fahrgäste stiegen aus und verschwanden eilig in der Dunkelheit. Plötzlich war im Zug eine Bewegung zu erkennen, ein Mann stürzte von seinem Platz zum Ausgang: Achim Grenzebach. Er war eingenickt gewesen und hatte erst im letzten Augenblick bemerkt, dass er raus musste. Jetzt hatte er die Tür erreicht, griff mit der Rechten nach der Haltestange und setzte den linken Fuß auf die Plattform.
In dem Moment fuhr der Zug mit noch offenen Türen an und riss ihn herum, sodass er mit dem rechten Fuß ins Leere trat – in die enge Spalte zwischen Bahnsteig und Waggon.
So stellte Schwarz sich das jedenfalls vor. Er versuchte auch, die Bilder heraufzubeschwören, wie Grenzebach ein Stück mitgeschleift wurde, wie sein Kopf auf den Beton aufschlug und er um sein Leben schrie. Endlich kam der Zug, der noch kaum Fahrt aufgenommen hatte, zum Stehen. Klaus Engler trat aus dem Führerstand auf den Bahnsteig und sah, wie der Fahrgast verzweifelt seinen eingeklemmten Fuß zu befreien versuchte. »Verschwinde!«, zischte er Anna zu. Erst dann alarmierte er den Notarzt.
Schwarz verließ den Bahnhof. Nun konnte er Grenzebach treffen.
Die Adresse Kauderweg 7 existierte nicht mehr, dafür gab es nun die Nummern 7a, 7b und 7c. Das Grundstück war geteilt und mit drei Einfamilienhäusern bebaut worden. Keines passte zum anderen, das einzige verbindende Element war die geschmackliche Verirrung – beim oberbayerischen, mit Schnitzereien verzierten Balkon vor der weiß lasierten, skandinavisch anmutenden Holzfassade oder bei der Dreifachgarage, deren Tore offensichtlich aus konkurrierenden Baumärkten bezogen worden waren.
Schwarz entschloss sich, am Haus Kauderweg 7a zu klingeln.
Eine resolute Frau mit blonder Kurzhaarfrisur öffnete. »Ja?«
»Guten Tag.«
»Grüß Gott, was wollen Sie denn?«
»Ich suche einen Herrn Grenzebach.«
Im Hintergrund begann ein Kind zu schreien. Sie stöhnte genervt. »Ja, Sandy, ist ja gut. – Den Achim?«
»Genau.«
»Der wohnt hier schon seit drei Jahren nicht mehr.«
»Verstehe. Haben Sie vielleicht seine neue Adresse?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er ist mitten in der Nacht auf und davon.«
»Warum denn das?«
»Hier ist ein alter Bauernhof gestanden. Der Achim hat in der Scheune gehaust, im ehemaligen Knechtszimmer. Dann ist der Bauer gestorben und seine Kinder wollten nicht sanieren, sondern abreißen. Der Achim hat den Denkmalschutz eingeschaltet, aber der hat nichts machen können, weil alles so baufällig war.« Sie seufzte. »Er hat es lange nicht wahrhabenwollen, dass er gehen muss, der Achim. Einmal war er noch bei mir und hat gesagt, ich soll für ihn kämpfen. Dabei haben wir schon den Baugrund gekauft gehabt.«
Ein etwa zweijähriges Mädchen mit nutellaverschmiertem Gesicht tauchte auf und versuchte, seine Mutter von der Haustür wegzuzerren. »Will DVD schauen.«
»Gleich, Sandy.«
Das Mädchen drückte sich an ihren Oberschenkel, allerdings nicht aus Schüchternheit, sondern um seinen Mund abzuwischen.
»Könnte jemand im Dorf wissen, wo der Herr Grenzebach jetzt wohnt?«
»Ich glaube nicht. Am Ende war der Achim so verbittert, dass er mit keinem mehr geredet hat. Und einen Verhau hat der hinterlassen. Der Bagger hat gleich die ganze Hütte weggeschoben.«
Schwarz nickte.
»Was hätten Sie denn von ihm gewollt?«
»Ich? Ich wollte ihn nur mal sehen.«
»Maamaa«, quengelte das Mädchen.
»Ja-ha«, sagte sie genervt und wandte sich wieder Schwarz zu. »Kennen Sie ihn noch aus der Zeit vor seinem Unglück?«
Schwarz schüttelte den Kopf.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie anders er war, so lustig und blitzgescheit. Er hat ja in München Chemie studiert und wir haben immer gescherzt, dass er der erste Otterfinger Nobelpreisträger werden wird.«
»Haben Sie mal mit ihm über seinen Unfall geredet?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich mich nicht getraut. Er ist fuchsteufelswild geworden, wenn einer an seiner Version gezweifelt hat. Und schließlich weiß keiner, was damals wirklich passiert ist.«
Das kleine Mädchen startete einen neuen
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