Pesch, Helmut W.
Ganges verschwand. Ein lautes Krächzen der Raben war wie der Abschieds-gruß, den ihnen der Alte verweigert hatte. Dann war er aus ihrem Blick verschwunden.
»Komischer alter Kauz«, ließ sich einer der Lios-alfar vernehmen.
Auch von den anderen kamen gemurmelte Bemerkungen, die nicht sonderlich schmeichelhaft für den Alten waren.
»Lasst Einauge seiner Wege gehen. Es ist nicht leicht für ihn. Zu sehr leidet er …«, sagte Laurion und ließ seinen Satz unvollendet.
»Worunter leidet er denn?«, fragte Gunhild. »Und wer ist er überhaupt?«
»Er hat uns immerhin vor den Schwarzalben gerettet«, sagte Siggi, der das Verhalten der Lios-alfar gegenüber dem Grauen als respekt-los empfand, trotz aller Vorbehalte, die er selbst gegenüber dem Alten hatte.
»Er hat viel verloren. Nicht nur sein Augenlicht, sondern fast alles, was er je erreicht hat«, erklärte Laurion. »Und er war einst groß.«
»Wer ist er?«, fragte Siggi. »Er macht den Eindruck, als wäre er sehr weise; manchmal zumindest.«
»Weise?« Laurion klang wie ein Echo. »Weise? Ja, das ist er wohl.
Und du weißt sogar, wie er an seine Weisheit gekommen ist.«
»Woher …«, Siggi unterbrach sich selbst. Dann erinnerte er sich an die Geschichte, die der Graue erzählt hatte: Wie Ygg seine Weisheit erlangte …
»Aber das ist nicht möglich …!«, entfuhr es ihm.
»O doch«, entgegnete Laurion. »Dieser alte Mann, der euch vor den Schwarzalben rettete und der so viele Namen hat, ist kein anderer als Allvater Odin selbst…«
Siggi und Gunhild sahen sich an.
»Du meinst«, sagte Gunhild, »ein Gott?«
»Ein richtiger Gott?«, fügte Siggi hinzu.
Sie hatten bislang schon manches akzeptiert: die Anderswelt, Lichtalben und Dunkelwesen, unterirdische Städte mit leuchtenden Kristallen und Legenden vom Anbeginn der Zeit … und einen magischen Ring, der unsichtbar machte, wie Siggi in Gedanken hin-zufügte. Und Gunhilds Hand ging wieder zu ihrem Halsband aus Gold und Edelsteinen.
Aber ein Gott? Ein Gott, der mit einem redete und durch die Gegend zog? Und ein streckenweise ziemlich müder Gott obendrein …
Überhaupt, Gott, das war etwas, zu dem man betete, in der Kir-che. Wenn dieses … dieses Wesen da ein Gott war, dann musste sich dahinter etwas ganz anderes verbergen, als sie mit diesen Begriff verbanden. Ein heidnischer Gott außerdem …
Siggi schlug unwillkürlich ein Kreuzzeichen, aber es wurde nur so etwas wie ein T daraus. Wie ein Hammer. Aber das war auch ein Hammer, diese Geschichte!
Laurion sah ihn mit einem schiefen Blick an.
»Ihr habt seine Namen gehört: Allvater, Heervater, Wanderer.
Man nannte ihn auch Siegvater, aber das ist lange vorbei.«
»Er wirkt manchmal so zynisch, so unbeherrscht«, sagte Gunhild.
»Woher kommt das?«
»Er hat viel hinnehmen müssen. Manches hat er trotz seiner Weisheit selbst verschuldet, aber an vielem tragen andere zumindest eine Mitschuld«, erwiderte Laurion, und seine Stimme klang traurig.
»Aber warum hat er keine Macht mehr?«, fragte Gunhild.
»Weil sein Speer zerbrach. All seine Macht war in dieser Waffe«, sagte Laurion. »Der Speer war die Macht, die nur er zu nutzen verstand, aber ohne ihn war er machtlos. Seitdem irrt er durch die Anderswelt und manchmal durch Midgard, aber er kann nur zuschau-en und nur noch sehr, sehr wenig bewirken. Und dabei ist ihm seine Weisheit manchmal mehr im Weg, als er es sich eingestehen will. Erinnert euch an die Worte der Königin. Er hört nicht auf sein Herz, sondern nur auf seinen Verstand; doch manchmal liegt im Gefühl mehr Wahrheit als in der Weisheit selbst.«
Siggi sah Laurion an und versuchte den Sinn des Gehörten zu er-gründen.
»Vielleicht«, sagte Laurion zu Siggi, »wirst du die Worte der Kö-
nigin irgendwann begreifen.«
»Wie ist denn der Speer zerbrochen?«, wollte Gunhild wissen.
»Das ist eine alte Geschichte, die ich euch ein andermal erzählen werde«, sagte Laurion. »Jetzt müssen wir erst einmal weiter.«
»Bitte«, bettelte Siggi.
»Nein, es könnte sein, die Schwarzalben hören uns und könnten uns in einen Hinterhalt locken.«
»Ich glaube«, warf Wali, einer der Lios-alfar ein, »die Kinder sollten diese Geschichte hören. Sie ist lehrreich. Wir könnten spähen, um zu verhindern, dass die dunkle Brut uns vor der Zeit bemerkt.«
»Viele Späher werden hier ohnehin nicht sein, die meisten dürften um die Aufmarschgebiete der großen Heere herum unterwegs sein«, meinte Widar.
»Gut, geht! Ich werde
Weitere Kostenlose Bücher