Pestmond (German Edition)
schlafen zu gehen. Es ist schon spät.«
Ayla stand gehorsam auf und befestigte das Tuch wieder vor ihrem Gesicht, doch ihr war anzusehen, wie wenig einverstanden sie mit dieser Entscheidung war.
Andrej wartete, bis Ayla gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, und fragte dann: »Was ist ihr zugestoßen?«
»Nicht alle Fremden, die hierherkommen, lassen ihren freundlichen Worten auch freundliche Taten folgen«, sagte Hamed. »Sie haben ihre Familie … getötet. Das Mädchen konnte ich retten. Seither lebt sie bei mir. Schon so lange, dass sie sich wahrscheinlich gar nicht mehr erinnert, dass es jemals anders gewesen ist. Aber ich will nicht, dass sie Vater zu mir sagt.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und jetzt genug davon.«
»Und die, die ihr das angetan haben?«, fragte Andrej.
»Sie werden nie wieder jemandem Gewalt zufügen«, sagte Hamed ernst. »Und auch nie wieder nach einem Nachtlager oder einem Schluck Wasser fragen.«
Nichts anderes hatte Andrej hören wollen. »Du wirst auf sie achtgeben«, vermutete er.
»Ja.« Einen Moment lang wirkte Hameds Blick fast entrückt. »Das werde ich«, fügte er dann hinzu, »und wenn es mein eigenes Leben kosten sollte.« Dann fuhr er mit veränderter Stimme und einem nicht sehr überzeugenden Lächeln fort: »Wohin willst du von hier aus, Andrej?«
»Ich weiß ja nicht einmal genau, wo ich bin«, erwiderte Andrej, was der Wahrheit zumindest nahekam und ihm noch einen weiteren kostbaren Moment gestattete, sich selbst gegenüber nicht einzugestehen, dass er die Antwort nicht wusste. Wohin sollte er gehen, jetzt, wo Abu Dun nicht mehr da war? Die meisten anderen hätten wohl geantwortet: Nach Hause, und wie gern hätte er dasselbe gesagt … aber die simple Wahrheit war, er hatte kein Zuhause mehr. Zuhause, das war der Ort, an den man gehörte. Und der einzige Platz, an den er jemals wirklich gehört hatte, war der an Abu Duns Seite gewesen, schon von dem Tag an, an dem er in Ketten und als sein Gefangener an Bord eines Piratenschiffes aufgewacht war.
»Iss noch etwas, bevor Ayla mit ihrem selbst gebackenen Brot zurückkommt und dich wieder zu vergiften versucht«, sagte Hamed lächelnd. »Und danach ruh dich noch ein wenig aus! Versuch zu schlafen!«
»Ich dachte, das hätte ich gerade. Länger, als ich eigentlich wollte.«
»Du hast geruht«, verbesserte ihn Hamed. »Aber das gilt nur für deinen Körper.« Er machte eine abwehrende Geste, als Andrej antworten wollte. »Bevor der Sturm nicht vorüber ist, kannst du hier ohnehin nicht weg.«
Kapitel 4
B evor der Sturm kam, hatte Andrej noch einige Stunden Schlaf gefunden, und zu seinem sachten Erstaunen und großer Erleichterung war es sogar ein Schlaf ohne Albträume gewesen.
Kurz vor Sonnenaufgang schickte Hamed Ayla, um ihn zu wecken (was sie auch mit unverhohlenem Vergnügen und mit einer Schale kaltem Wasser tat) und ihm auszurichten, dass er auf der anderen Seite des Dorfes auf ihn wartete. Sie ging, bevor Andrej wieder zu Atem gekommen war und sie fragen konnte, warum, doch er hatte das ungute Gefühl, dass sie es auch tat, weil sie wohl ahnte, wie wenig ihm die Antwort gefallen hätte. Also beeilte er sich, nur das Allernotwendigste zu erledigen und die Hütte dann zu verlassen – wenn auch erst, nachdem er seinen albernen Stolz überwunden und Hameds Gastgeschenk angenommen hatte, das ihm Ayla gebracht hatte: einen schmucklosen, dafür aber unversehrten und vor allem warmen Mantel, den er schon nach wenigen Schritten im Freien zu schätzen wusste, denn obwohl es nur mehr wenige Augenblicke bis Sonnenaufgang dauern konnte, war es noch kälter als am Tag zuvor.
Trotz der frühen Stunde schien er der Einzige zu sein, der noch geschlafen hatte. Jeder Einzelne der vielleicht drei Dutzend Einwohner, die das Dorf haben mochte, war bereits auf den Beinen, und es herrschte emsiges Treiben. Niemand schien sonderliche Notiz von ihm zu nehmen. Im ersten Moment und noch immer ein wenig schlaftrunken glaubte er, es läge daran, dass sie ihn dank seines Mantels für einen der Ihren hielten, aber es war wohl eher so, dass die Leute zu beschäftigt waren, um ihm mehr als einen flüchtigen Blick zuzuwerfen.
Hamed erwartete ihn auf dem Kamm einer der flachen Sanddünen, die das Dorf an drei Seiten umgaben und einen Schutzwall gegen den unentwegt wehenden heißen Wüstenwind bildeten. Andrej hatte erwartet, dass er ihm entgegenkam, und als das nicht geschah, beschleunigte er seine Schritte
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