Pestmond (German Edition)
und rannte das letzte Stück beinahe, getrieben von einer inneren Unruhe, die ihm nur zu bekannt war. Irgendetwas würde geschehen. Nichts Gutes.
Auch als er sich ihm näherte, drehte sich Hamed nicht zu ihm herum, sondern sah weiter nach Osten, in dieselbe Richtung, in die die Düne gewandt war und in der in wenigen Augenblicken die Sonne aufgehen würde. Andrej registrierte beiläufig, dass die nach Osten gewandte Flanke des – offensichtlich künstlich angelegten – Hügels sorgsam mit Büschen und dicht wuchernden Wurzeln bepflanzt worden war, um sie vor Erosion und Wind zu schützen.
»Du hast mich gerufen?«
Hamed reagierte zwar mit einem angedeuteten Nicken, drehte sich aber immer noch nicht zu ihm um. Andrej konnte seine Anspannung spüren. Er war nicht nur hierherauf gekommen, um auf den Sonnenaufgang zu warten. »Hast du ein wenig Ruhe gefunden?«
»Danke! Aber du hast sicher nicht nach mir geschickt, um mich das zu fragen?« Trotz der ruppigen Antwort sah Hamed weiter konzentriert in dieselbe Richtung.
»Was siehst du?«, fragte Andrej.
Statt zu antworten, stellte Hamed selbst eine Frage. »Ich weiß, dass es mich nichts angeht, Andrej … aber ich frage dich jetzt trotzdem, was deinem Freund und dir wirklich zugestoßen ist.«
»Warum?«, wollte Andrej wissen. Hamed hatte recht. Es ging ihn nichts an.
»Weil dort draußen etwas ist«, antwortete der alte Mann. Er sah immer noch so angestrengt nach Osten, als erblickte er etwas, das Andrejs ungleich schärferen Augen entging. Doch Andrej sah da nur die Düne.
»Ich verstehe nicht genau, was du meinst«, sagte er vorsichtig. »Da ist nichts.«
»Man kann es spüren«, beharrte Hamed. »Du sicher nicht, aber wie solltest du auch? Vielleicht muss man so lange hier draußen leben wie ich, um die Stimme dieses Landes zu verstehen. Ich höre sie, Andrej. Und da ist ein Klang, der nicht hierher gehört.«
»Hast du eigentlich jemals daran gedacht, Poet zu werden oder Dichter?«, witzelte Andrej.
»Das war ich, vor langer Zeit«, gab Hamed ernst zurück. »Aber es ist eine brotlose Kunst, und man schafft sich viele Feinde und ahnt es zumeist nicht einmal.« Nun wandte er sich doch zu Andrej um, um zu ihm hochzusehen. Im schwachen Sternenlicht kamen Andrej die Falten und Linien in seinem Gesicht mit einem Mal noch ungleich tiefer vor als bisher. »Ich habe das ernst gemeint. Dort draußen … ist etwas. Weißt du, was es ist?«
Etwas, das sie geweckt hatten. Etwas, das Abu Dun umgebracht hatte und keine Ruhe geben würde, bis es auch ihn getötet hatte. Etwas Böses. Einen Moment lang überlegte Andrej ernsthaft, einfach hinauszugehen und sich dem Ungeheuer zu stellen, verwarf diesen Gedanken aber auch fast genauso schnell wieder, wie er ihm gekommen war. Es wäre ein sinnloses Opfer. Das Ungeheuer wollte seinen Tod, aber es würde nicht mit Gnade für andere dafür bezahlen, sondern dennoch herkommen und alles Leben auslöschen, auf das es traf.
Doch dann kamen ihm Zweifel. Ja, Murida – das Ding , zu dem sie geworden war – hatte Abu Dun tödlich verletzt und Süleyman und alle seine Krieger ausgelöscht, aber wenn es wirklich ihrer aller Tod im Sinn gehabt hätte, dann würde er jetzt nicht hier stehen.
»Du kannst es also hören?« Er versuchte scherzhaft zu klingen, aber auch ein kleines bisschen spöttisch. Weder das eine noch das andere gelang ihm. »So wie den Sturm, der nicht kommt?«
Hamed wirkte nicht verletzt, sondern hob nur sacht die Schultern und drehte sich wieder nach Osten, wo die Sonne jetzt eigentlich aufgehen sollte, es aber nicht tat.
Es verging noch ein Moment, bis Andrej begriff, dass es zwar hell wurde, nur nicht so, wie er es erwartet hatte und gewohnt war, und auch am falschen Ort. Der Himmel begann sich zwar orange zu färben, doch viel zu weit oben, als hätte etwas den Horizont um ein gehöriges Stück angehoben oder ihn in ihre Richtung versetzt.
Oder verschlungen.
Zuallererst spürte er es, ein dumpfes, ungemein kraftvolles Grollen, das den Sand unter seinen Füßen in Vibration versetzte, lange bevor es die Grenzen des Hörbaren erreichte, ein Laut, als erwachte tief im Leib der Erde ein Drache aus einem Jahrtausende währenden Schlaf und sammelte all seine Kräfte, um die Welt zu verheeren. Weder war der Horizont verschwunden, noch hatte die Sonne vergessen aufzugehen, vielmehr raste von Osten eine kompakte Wand aus Schwärze auf sie zu, vor der die Nacht nicht schnell genug zurückweichen konnte, um nicht
Weitere Kostenlose Bücher