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Pestmond (German Edition)

Pestmond (German Edition)

Titel: Pestmond (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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»Ich bin Vater Lucio.« Andrejs erste Frage ließ er unbeantwortet.
    Andrej seufzte sehr tief, deutete ein bedauerndes Schulterzucken an und schlenderte in Richtung des improvisierten Altars. Dabei steuerte er so auf Vater Lucio zu, dass dieser die Richtung wechseln und dabei rückwärts auf Abu Dun zugehen musste, der mit vor der Brust verschränkten Armen vor der Tür stand und sie blockierte.
    »Vater Lucio«, sinnierte er. »Das ist ein schöner Name. So bescheiden und dennoch edel. Er passt zu diesem Ort, finde ich.«
    Lucio sagte nichts dazu – was auch? –, doch Abu Dun runzelte die Stirn und sah ihn verwirrt an.
    »Und eine schöne Kirche habt Ihr hier«, fuhr Andrej fort. »Ihr müsst eine sehr gläubige Gemeinde haben, will mir scheinen. Wer hat diese Kerzen entzündet, und warum?«
    Wieder bekam er keine Antwort, aber das Flackern in Lucios Augen wurde stärker. Andrej lächelte dünn, trat an den Altar heran und zögerte, als ihm auffiel, dass das bescheidene Arrangement darauf keineswegs Zufall war. Ganz im Gegenteil: Das Kruzifix war so ausgerichtet, dass es genau in dem schräg durch das runde Fenster hereinfallenden Lichtstrahl stand. Das Glas war gelb gefärbt und nicht sehr sauber gegossen, was einen ganz erstaunlichen Effekt zur Folge hatte: Der Kopf des geschnitzten Jesus, der mit ausgebreiteten Armen an dem grässlichen Folterwerkzeug hing, das die Christen anbeteten, schien in einen Heiligenschein aus goldfarbenem Licht getaucht zu sein, und seine kaum angedeuteten Augen blickten Andrej mit sanftem Vorwurf an – aber auch mit Vergebung für alles, was er je getan hatte und noch tun würde.
    Er blinzelte, und das Trugbild war genauso schnell verschwunden, wie es entstanden war. Das Kreuz war wieder ein erbärmliches Nicht-Kunstwerk, das dilettantisch aus einem Stück Treibholz geschnitzt worden war, und das Licht kein magischer Heiligenschein mehr, sondern nur ein blasser Strahl, der durch billiges Glas in eine ärmliche Dorfkapelle fiel. Nur ein seltsam ungutes Gefühl blieb zurück, das Andrej aber nicht an sich heranließ, denn etwas in ihm schrak aus gutem Grund davor zurück, sich näher damit zu befassen.
    Statt dessen führte er seine angefangene Bewegung zu Ende, als wäre gar nichts gewesen, und hielt die Hand so dicht über eine der Kerzen, dass die Flamme seine Finger gerade eben nicht berührte. Es wurde warm, dann heiß, und schließlich kam der Schmerz – aber was bedeutete das schon?
    »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet, Vater«, sagte er. »Diese Kerzen. Wer hat sie entzündet, und warum?«
    Er bekam auch jetzt keine Antwort, was aber wohl eher daran lag, dass Lucio seine Worte gar nicht gehört hatte. Er starrte aus aufgerissenen Augen auf seine Hand, die noch immer ohne das mindeste Zittern über der Kerze hing. Die Flamme hatte seine Fingerspitzen längst schwarz gefärbt, und der Gestank nach verkohlter Haut und schmorendem Fleisch begann sich breitzumachen. Abu Duns Stirnrunzeln vertiefte sich.
    »Aber was …?« Vater Lucio erwachte immerhin weit genug aus seiner Starre, dass er die Hand heben und das Kreuzzeichen vor Stirn und Brust schlagen konnte. Es war ihm noch immer nicht möglich, den Blick von Andrejs Hand zu lösen, auf der das Fleisch mittlerweile zischend zu verbrennen begann und Blasen schlug. Es tat so weh, dass es Andrej immer mehr Willensstärke kostete, ein Wimmern zu unterdrücken.
    Stattdessen zwang er ein Lächeln auf seine Lippen, hielt die Hand noch weitere zehn geschlagene Sekunden in die sengende Hitze und drehte sich dann ganz langsam zu dem entsetzten Geistlichen um. Ein dünnes und durch und durch böses Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er die Hand hob und Lucio dabei zusehen ließ, wie die nässenden Brandwunden auf seiner Hand verschwanden und die Haut wieder ihre normale Färbung annahm. Nur ein wenig Ruß blieb auf seinen Fingerspitzen zurück. Er wischte ihn weg.
    »Großer Gott!«, hauchte Vater Lucio. Er schlug abermals das Kreuzzeichen, wich rückwärts vor ihm zurück und ließ sich schließlich auf die Knie fallen, als er gegen Abu Dun prallte. Zitternd faltete er die Hände vor der Brust und begann lautlos zu beten.
    Andrej ließ ihn eine Weile gewähren und gab Abu Dun schließlich ein Zeichen, ihn wieder auf die Füße zu ziehen. Andrej zog es vor, lieber nicht über den Blick nachzudenken, mit dem der Nubier ihn maß.
    »Steht auf, Vater«, sagte er. »Niemand muss vor mir knien. Ich mag das nicht. Und es ist auch

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