Pestmond (German Edition)
einen Ort suchten, an dem sie eine Weile ausruhen, etwas trinken und sich säubern konnten. Er hatte nichts von ihnen zu befürchten – nicht einmal, wenn es anders gewesen wäre –, aber wenn er ehrlich war, dann wollte er nicht einmal mehr Hamed sehen oder das Mädchen und war im Nachhinein sogar froh, kaum einen anderen Dorfbewohner zu Gesicht bekommen zu haben. Er würde das Kamel abliefern, wie er es versprochen hatte, und sich dann zu Fuß und vor allem allein auf den Weg machen und sehen, wohin ihn seine Schritte führten. Er musste allein sein, und das für lange Zeit. Vielleicht für immer.
»Wo bleibt das Mädchen?«, fragte er, nachdem weitere Zeit verstrichen war. Von draußen drangen gedämpfte Stimmen herein und das ärgerliche Blöken eines Kamels.
»Ayla?« Hamed, der missmutig die Reste seiner Tür betrachtete – die Andrejs Meinung nach auch vorher in keinem wesentlich besseren Zustand gewesen war –, sah nachdenklich zu ihm hoch und hob dann die Schultern. »Das frage ich mich auch. Wahrscheinlich hat sie eines der anderen Kinder getroffen und darüber die Zeit vergessen.« Er rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Sie ist eben ein Kind.«
Andrej konnte sich nicht erinnern, andere Kinder gesehen zu haben. Hamed sprach jedoch schon weiter. »Ich gehe und schaue nach, wo sie bleibt … auch wenn ich jetzt eigentlich ein wenig verletzt sein sollte, dass du meine Gastfreundschaft so wenig zu schätzen weißt und gar nicht schnell genug von hier wegkommen kannst.«
Er hob die Hand, als Andrej widersprechen wollte, und war schon verschwunden. Verdutzt sah Andrej ihm nach. Anscheinend war Hamed wirklich ein wenig verstimmt, auch wenn dies keinesfalls in seiner Absicht gelegen hatte.
Ein Grund mehr, eine Weile allein zu bleiben, wenn ihn sein eigentlich ausgezeichnetes Gespür für die Befindlichkeiten anderer im Stich ließ.
Er überlegte, selbst nach dem Mädchen zu sehen, entschied sich aber dann, die Zeit zu nutzen und sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem er den Schaden reparierte, den er angerichtet hatte. Immerhin hatte er vollmundig erklärt, wie gut er so etwas konnte. Als er die Tür immerhin so weit zusammengezimmert hatte, dass sie ihren Dienst für eine Weile verrichten konnte, hörte er Schritte hinter sich.
Es war nicht Hamed, sondern Ayla, und sie brachte auch kein Wasser mit oder Lebensmittel. »Du willst wirklich schon weg?«, sagte sie mit enttäuschter, fast weinerlicher Stimme.
»Ich muss«, antwortete Andrej, während er versuchte, die Tür wieder einzuhängen, ohne dabei noch mehr Schaden anzurichten.
»Ja, das hat Hamed auch gesagt«, sagte Ayla betrübt. »Aber nicht, warum.«
»Weil ich … noch etwas Dringendes zu erledigen habe«, antwortete Andrej ausweichend. »Wo ist Hamed überhaupt?«
»Er verhandelt gerade noch wegen des Kamels«, erwiderte Ayla. »Er hat gesagt, dass ich hier mit dir warten soll.«
»Aha«, sagte Andrej. »Warum?«
Ayla hob zur Antwort nur die Schultern und maß ihn mit einem sehr langen Blick, dann nickte sie heftig. »Oder doch, ja. Ich habe noch etwas für dich.« Damit griff sie unter ihren Mantel und zog ein eng zusammengefaltetes Bündel von undefinierbar heller Farbe hervor, von der Andrej annahm, dass es einmal Weiß gewesen war. Mit fragendem Blick nahm er es entgegen. »Was ist das?«
Ayla machte eine auffordernde Bewegung mit beiden Händen. Als Andrej das Bündel auseinanderfaltete, fand er darin ein Hemd, vielleicht eine Spur zu groß für ihn und sichtlich alt, aber in ausgezeichnetem Zustand und mit überaus kunstvollen Stickereien bedeckt, die er im ersten Moment nur für verspielte Ornamente hielt, bis er die Ähnlichkeit der filigranen Linien mit ihren Tätowierungen erkannte.
»Es hat meinem kleinen Bruder gehört.« Aylas Augen leuchteten vor Stolz. »Meine Mutter hat es gemacht. Ich möchte es dir schenken.«
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte Andrej. Unverzüglich wollte er ihr das Kleidungsstück zurückgeben, doch das Mädchen schüttelte fast erschrocken den Kopf und machte einen Schritt zurück. »Aber ich möchte, dass du es nimmst. Du würdest mir einen großen Gefallen damit tun.«
»Gibt es denn sonst niemanden, dem du das Hemd vermachen könntest?«, fragte er. »Hast du keine anderen Brüder …«
Ayla winkte hastig ab. »Nur Ali, meinen älteren Bruder. Aber der trägt so etwas nicht.«
Andrej sah noch einmal auf das Hemd, dann an sich selbst und dem erbärmlichen Fetzen, den er trug,
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