Peter Hogart 1 - Schwarze Dame
Musil ging voraus.
Er führte sie aus der Nische in den Korridor, um bei einem Kaffeeautomaten haltzumachen. Dort steckte er den Token an seinem Schlüsselbund in den Schlitz und drückte sich einen Kaffeebecher aus dem Automaten. »Möchten Sie auch?«, fragte er.
»Nein danke. Der Film …«, erinnerte ihn Ivona.
»Ja, ja, Der Golem.« Musil nippte vorsichtig an dem heißen Gebräu. »Da sowohl die originalen Filmrollen als auch das unverwendet gebliebene Material nicht im Familienbesitz der Wegeners sind, sondern seit Jahrzehnten in Prag lagern, wurde der Film hier restauriert - vor ungefähr einem Jahr. Soweit ich mich erinnere wurden alle geschnittenen Szenen - bis auf eine - in den Film eingefügt. In der restaurierten Fassung dauert der Film statt der ursprünglichen 86 volle 93 Minuten.« Er tippte sich an die Stirn. »Alles hier drin! Musil - das menschliche Archiv!«
»Geht es in diesem Film um eine Schachpartie?«, fragte Hogart.
»Um Schach? Nein, Mann.« Der Junge lächelte, als hätte er es mit einem kompletten Idioten zu tun. »Es geht um den Golem, wissen Sie! Deshalb trägt der Film ja auch diesen Titel.«
Hogart ließ nicht locker. »Aber vielleicht kommt in dem Film eine Schachszene vor, wird eine bestimmte Partie erwähnt oder ein Schachbrett gezeigt.«
Der Junge schielte aus dem Augenwinkel zu Vesely. »Schreiben Sie in Ihrem nächsten Buch darüber?«
Vesely feuchtete sich mit der Zunge die Lippen an, doch im gleichen Moment warf ihm Ivona einen warnenden Blick zu.
»Äh …ja«, stammelte Vesely. »Ein Essay über die Geschichte des Schachs.«
Musil nickte. »Mal sehen …« Falten traten auf seine Stirn. »Es gibt diese eine Szene, in der der Kaiser dem Rabbi und seinem Golem eine Audienz gewährt. Bei der Digitalisierung dieser Szene habe ich mitgeholfen. Möglich, dass in der Ecke des Kaiserpalasts ein Schachbrett steht.« Musil lächelte sie an.
Hogart fixierte den Jungen. »Das ist alles?«
»Ja, das ist alles, Mann! Aber falls Sie mir nicht glauben, können Sie meinen Kollegen fragen, der den Film restauriert hat. Er arbeitet nur nachmittags hier. Wenn Sie bis zwei Uhr warten, können Sie …«
»So viel Zeit haben wir nicht«, unterbrach ihn Hogart. »Ich verstehe, so viel Zeit haben Sie nicht«, wiederholte Musil ironisch.
»Könnten wir uns den Film ansehen?«, bat Ivona.
»Der Film selbst ist nicht hier, sondern liegt in irgendeinem Archiv der Filmstudios. Bei uns wurde er nur restauriert, daher lagern hier nur die geschnittenen Originalszenen - die Container sind wie ein Verwundetenhospital.«
Hogart überlegte. »Sie sagten eben, dass alle bis auf eine Szene verwendet wurden. Könnten Sie uns diese Sequenz zeigen?«
»Falls Ihnen das weiterhilft, die müsste hier irgendwo rumliegen. Ich muss sie erst suchen … Kommen Sie besser morgen wieder.«
Hogart sah den Jungen ernst an.
»Ach ja, Mann, so viel Zeit haben Sie nicht. Kommen Sie trotzdem morgen wieder.«
Bevor Hogart etwas sagen konnte, legte Vesely dem Jungen väterlich die Hand auf die Schulter. »Es geht um mein Schachbuch«, sagte er auf Tschechisch.
Seufzend wandte sich Musil ab. »Weil Sie es sind. Kommen Sie mit.«
Als Hogart das Archiv betrat, war sein erster Gedanke, dass er den gesamten Krempel, der hier lagerte, tonnenweise auf dem Flohmarkt verkaufen könnte. Das Archiv bestand aus einem endlos langen fensterlosen Container mit einer Batterie nackter Neonröhren an der Decke. Links und rechts stapelten sich Kisten mit altem Filmmaterial. Um bis zum Jahr 1920 zurückzugehen, mussten sie ans andere Ende des Containers marschieren.
»Der Golem, wie er in die Welt kam von Paul Wegener, nach dem Roman von Gustav Meyrink«, murmelte Musil, während er auf Zehenspitzen die Regale mit den Filmrollen durchsuchte. »Stummfilmklassiker des deutschen expressionistischen Horrorfilms … Da ist die Kiste!«
Musil zerrte eine graue Schachtel aus dem obersten Regal. Mit dem Stanleymesser schnitt er die Klebestreifen auf. Der Karton enthielt ein vergilbtes Drehbuch, einen verschnürten Packen Briefe und eine um einen Holzkern gewickelte Filmrolle von etwa neunzig Metern Länge, was einer Spieldauer von knapp vier Minuten entsprach. Auf der Blechdose klebte ein Zettel mit verschmierter Handschrift in deutscher Sprache: Einstellung 151 - nicht zur Vorführung genehmigter Zensurschnitt - Wie der Golem den Kaiser beeindruckt.
Zunächst blätterte Musil durch den Briefstapel. Als er ein Schreiben von Gustav
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