Peter Hogart 1 - Schwarze Dame
allesamt Mitglieder im Schachclub. Jeder der Jungen nahm sich noch gestern Abend die Datenbank eines Landes vor. Die meisten haben bis in die frühen Morgenstunden durchgearbeitet. Sie hielten es für ein Rätsel, das ich mir ausgedacht habe, um ihre Intelligenz zu prüfen.« Vesely schmunzelte. »Sie sind derart eifrig, dass mir die meisten Ergebnisse schon beim Frühstück vorlagen.«
Hogart merkte, dass Veselys Hände zitterten. »Und?«, fragte er.
»Es tut mir leid, aber eine Partie, auf welche die Abfolge der geschlagenen Figuren zutrifft, ist in keiner der durchforsteten Datenbanken erfasst. Allerdings sind noch drei Länder ausständig: Polen, Rumänien und die Ukraine.«
»Falls wir die Partie auch dort nicht finden, muss es eine sein, die in keinem Archiv dokumentiert ist, weil sie von den Killern neu gespielt wird.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Vesely. »Es handelt sich bestimmt um eine historische Partie, wir haben sie bloß noch nicht gefunden. Möglicherweise suchen wir an der falschen Stelle.« Vesely zog seinen Schal enger um den Hals. »Pavel meint, es könnte sich um eine zwar vorgegebene, aber fiktive Partie handeln.«
Hogart und Ivona sahen einander ratlos an. »Was meinen Sie mit fiktiv?«
»Eine Partie, die zwar nie gespielt, aber beispielsweise in einem Lied erwähnt, in einem Roman beschrieben oder im Orchesterwerk eines Komponisten umgesetzt wurde.«
Ivona stöhnte auf. »Wenn das der Fall ist, wird die Suche noch schwieriger.«
»Hat Zweigs Schachnovelle einen Bezug zu Prag?«, fragte Hogart. Es war die einzige ihm geläufige Verbindung von Literatur und Schach.
Vesely schüttelte den Kopf. »Selbst wenn dem so wäre, das Buch ist aus Schachspieler-Sicht eine Enttäuschung. Es wird darin weder der Reiz des Schachspiels dargestellt, noch gewährt es einen Einblick in die Tiefe und Komplexität des Spiels. Zudem wird nur eine einzige Eröffnungsvariante erwähnt, sonst hat der Roman keinen praktischen Bezug zum Schach.«
»Oder in einem Lied …«, wiederholte Hogart Veselys Worte von vorhin. »Sagt Ihnen der Name Hans Landsberger etwas?«
»Ich muss gestehen: Nein.«
Es war auch nur ein plötzlicher Einfall Hogarts. Im Geiste sah er den stummen Micha auf der Couch sitzen, wie er mit seinen feingliedrigen Fingern zum Takt der Musik dirigierte. Plötzlich hatte er wieder die traurige Melodie der Schallplatte im Ohr. »Landsberger war Deutscher, er komponierte die Musik zu dem alten Schwarz-Weiß-Film Der Golem.«
»Ja, warum nicht in einem Film?«, rief Ivona. »Prag ist immerhin eine Filmstadt.«
»Der Golem«, wiederholte Vesely. »Die jüdische Legende vom Golem. Der Film spielt in Prag und handelt von der Erschaffung eines künstlichen Menschen aus Lehm. Interessant … wie kommen Sie ausgerechnet darauf?«
Hogart erzählte von seinem Verdacht, Micha Zajic könnte einer der beiden Mörder sein. Immerhin handelte es sich beim ersten Opfer um seine Mutter, er war Linkshänder und sein orthopädischer Schuh mochte zu dem Fußabdruck am Tatort passen. Darüber hinaus geschahen die Vergewaltigungen durch den Vater jeweils am ersten Montag eines Monats - und die Morde an jedem ersten Tag im Monat.
»Wir wissen, dass Micha Zajic Stummfilme liebt und geradezu vernarrt in Landsbergers Filmmusik ist«, sprach Hogart hastig weiter. »Der Golem ist ein deutscher Film, Michas älterer Bruder spricht deutsch, sein Vater arbeitet in der deutschen Botschaft und die Killer verwenden deutsche Abkürzungen, die sie in die Leichen ritzen. Außerdem steht eine grässliche Golemstatue im Haus von Dr. Zajic, ebenso ein Schachbrett mit aus Lehm gebrannten Figuren.«
Ivona und Vesely sahen Hogart skeptisch an.
»Ich weiß, das ist nur ein Haufen loser Fäden«, verteidigte er sich. »Aber ich bin davon überzeugt, dass sie irgendwie zusammenführen.« Seine Gedanken überschlugen sich: Schach, Golem, Musik, Lehm, Michas Klumpfuß und deutsche Abkürzungen … Die einzelnen Puzzleteile lagen ausgebreitet vor seinem geistigen Auge, aber er wusste noch nicht, wie sie zusammenpassten und welches Bild sie ergaben.
Er wandte sich an Vesely. »Ihr Sohn sagte doch, es könnte sich um eine fiktive Partie aus der Musik oder Literatur handeln … möglicherweise ist dieser Film der Schlüssel zu allem. Was genau hat es mit diesem Golem auf sich?«
»Das kann ich Ihnen gern erzählen, aber ich fürchte, der Film hat nichts mit Schach zu tun.« Vesely blieb neben einer Weide stehen, um sich die
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