Peter Hogart 1 - Schwarze Dame
Meyrink an Paul Wegener fand, das vom Januar 1919 stammte, hielt er inne und öffnete das Dokument.
»Darin spricht sich Meyrink aus, die Szene im Film nicht zu verwenden.« Kleinlaut reichte er Hogart das Papier. »Scheint so, als behielten Sie recht.«
Hogart überflog das in sauberer Handschrift verfasste Dokument. Je weiter er las, desto deutlicher spürte er, dass sie sich der Auflösung des Rätsels näherten - und dann lag es klar vor ihm. In diesem Brief, verborgen in einer Schachtel, versteckt zwischen archivierten Filmrollen in einem Container, so lang wie ein Güterwagon, lag der Schlüssel zu der Mordserie.
Dem Brief war zu entnehmen, dass Paul Wegener während der Prager Dreharbeiten zunächst im Sinn hatte, dass der Golem den Kaiser durch seine Intelligenz besticht, indem er ihn in einem Wettstreit besiegt. Diese Szene wurde zwar gedreht, jedoch nach dem vorliegenden Protestschreiben Meyrinks aus dem endgültigen Film entfernt, da sie im Roman nicht vorkam und sein Bild vom Golem verfälscht hätte. Stattdessen entstand jene Szene, worin der Golem dem Kaiser das Leben rettet, die später im Endschnitt des Films zu sehen ist. Hogart spürte ein kaltes Kribbeln, als er las, dass es sich bei dem Wettstreit um eine Schachpartie handelte. Er faltete den Brief zusammen und deutete auf die Filmrolle.
»Können Sie uns die Szene vorführen?«
Musil blähte die Backen. »Die Rolle ist irgendwann feucht geworden. Der Schimmel hat sich ins Bild gefressen. Gut sieht der Film nicht mehr aus, aber wir könnten es versuchen.«
»Heute noch?«, fragte Ivona.
KAPITEL 13
Eine halbe Stunde später saßen sie im Vorführraum, wo sie darauf warteten, dass Musil die 35-mm-Filmrolle in den alten russischen Projektor einlegte. Schließlich wurde es finster. Das Gerät begann zu surren, auf der Leinwand bildete sich ein Flimmern. Nach der grell-weißen Eröffnungssequenz erschien eine Klappe im Bild: Einstellung 151.
»Paul Wegener steckt in der Golem-Maske«, plapperte Musil darauflos. »Ihm gegenüber sitzt Otto Gebühr, der den Kaiser verkörpert und …«
Mit einem Zischlaut brachte Ivona den zappeligen Musil zum Schweigen. Obwohl es sich um einen Stummfilm handelte, rutschte sie an die Stuhlkante und neigte den Kopf, als wolle sie verstehen, was im Film gesprochen wurde.
Die Bewegungen der Schauspieler waren eckig, ihre Lippenbewegungen tonlos. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme unterstrich die Kontraste der dick aufgetragenen Schminke in ihren Gesichtern. Auf dem Tisch zwischen ihnen befand sich ein Schachbrett mit mächtigen, fast handtellergroßen Figuren. Eine Person im schwarzen Mantel, vermutlich Rabbi Low, stand händeringend im Hintergrund.
Die Aufnahme ruckte und war von überaus schlechter Qualität. Gelbe Flecken trübten das Bild, als wäre der Film grellem Licht ausgesetzt gewesen. Das Zelluloid war mit Kratzern übersät und von einer Staubschicht bedeckt, die aufgestoben im Lichtstrahl des Projektors wirbelte. Schwarze Striche tanzten über die Leinwand. Aber Hogart störte sich nicht daran. Für ihn machte dies den Film authentischer, lebendiger und aussagekräftiger als all die seelenlosen modernen Digitalfilme mit ihren überfrachteten Tricks und Effekten, die wie Schablonen aus dem Computer gezogen wurden. Noch mehr beeindruckte ihn jedoch die Tatsache, dass er tatsächlich Zeuge einer Schachpartie wurde. Der König zog mit Weiß, der Golem mit Schwarz. Mit angehaltenem Atem beobachtete Hogart das Spiel.
Als die erste Figur fiel, räusperte sich Vesely. »Weißer Bauer schlägt schwarzen Bauer auf D5«, kommentierte er.
Der Golem reagierte mit einem Zug, mit dem er den Bauern seines Gegners im wahrsten Sinne des Wortes vernichtete. Er nahm die weiße Figur vom Brett, umschloss sie mit der klobigen Faust und zerquetschte sie. Danach schritt das Spiel genauso rasant voran, wie es begonnen hatte.
Vesely brauchte die Spielzüge nicht mitzuschreiben. Hogart merkte an seiner konzentrierten Miene, dass er den kompletten Spielverlauf im Kopf notierte.
»Erstaunlich«, murmelte Vesely. »Ich hätte das nie für möglich gehalten.«
Weitere Figuren wurden von der Spielfläche genommen. Der Kaiser stellte die von ihm geschlagenen Figuren neben das Brett, wohingegen der Golem sie demonstrativ in der Faust zerdrückte. Je schneller der Golem seine Züge ausführte, desto länger musste der Kaiser nachdenken. Mit einer übertriebenen Gestik und Mimik brachte der Schauspieler die Verzweiflung des
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