Pfad der Schatten reiter4
sich im Inneren einer Eierschale befinden, dabei hatte das Schloss doch dicke Mauern, oder etwa nicht? Nein, keine Eierschale, dachte Karigan, sondern eine Muschel. Die Wände schimmerten wie Perlmutt, ähnlich wie die eletischen Rüstungen.
Der Raum, in den sie gekommen waren, bildete die unterste Kammer eines hohen Turmes, und wenn sie nach oben blickten, sahen sie bis in scheinbar unendlichen Höhen Treppen und Gänge, die sich an den Wänden entlangwanden, und Brücken, die verschiedene Stockwerke mit anderen Türmen verbanden. Die Wände waren gesäumt von Türen, die wer weiß wohin führen mochten. Die Entartung des Waldes war nicht in den Turm eingedrungen. Stattdessen hatte Karigan den Eindruck eines Ortes, der seit Langem vom Rest der Welt abgeschnitten gewesen war, verlassen und leblos, aber dennoch eine Festung, die der Finsternis standhielt.
Lynx hatte Graelalea auf eine Decke auf dem Boden gebettet, und er und Ealdaen versorgten ihre Wunde.
»Nein«, keuchte Graelalea, »ich brauche Galad …«
Yates stieß Karigan in die Seite. »Was siehst du? Was ist passiert? Wo sind wir?«
Aber sie antwortete ihm nicht. Sie verließ ihn und ging mit zögernden Schritten auf Graelalea zu, als würde sie von einem Willen dorthingezogen, der nicht ihr eigener war.
»Galad … Galadheon«, flüsterte Graelalea.
Karigan kniete sich neben die Eleterin. Blut befleckte die Decke, auf der sie lag, und sickerte aus ihren Mundwinkeln. Ihre Augen waren stumpf geworden.
»Ich bin hier«, sagte Karigan.
»Wie es prophezeit wurde«, sagte Graelalea, ihre Stimme kaum noch ein Flüstern. »Ich werde den Schwarzschleier nicht mehr verlassen.«
Ealdaen widersprach auf Eletisch.
»Nein, sei still, Ealdaen«, antwortete sie. »Die Wunde ist tödlich. Hört zu, ein Galadheon … ein Galadheon muss vollenden …« Sie hob die Hand zu ihrem Haar, und mit einer Bewegung, die sie ihre letzte Kraft zu kosten schien, zog sie eine Feder aus einem ihrer Zöpfe und gab sie Karigan. »Enmorial . Erinnern Sie sich. Sie müssen die Schwellen überqueren, Galadheon. Gehen Sie mit dem Mond.«
Graelaleas Körper sackte zusammen, und das Leben erlosch in ihren Augen. Ealdaen und die anderen Eleter stießen einen verzweifelten Schrei aus, der emporstieg und in allen Nischen des Turms widerhallte.
»Lebt wohl«, murmelte Karigan Graelalea zu, und noch während sie sie ansah, verblasste die Rüstung der Eleterin und wurde stumpf, als wäre auch sie gestorben.
Die Eleter betteten Graelaleas Leiche in die Mitte der runden Kammer und deckten sie mit ihrem graugrünen Umhang zu. Sie legten ihren Mondstein auf ihre Brust, der einen schwachen, sanften Schein aussandte, und saßen in einer schweigenden Totenwache um sie herum.
»Das bringt doch nichts«, brummte Ard, der nervös auf
und ab ging. »Was sollen wir tun? Ewig hier herumstehen und auf sie warten?« Er wies mit dem Daumen auf die Eleter.
»Sie war ihre Prinzessin und Anführerin«, sagte Karigan, die mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saß. Ihre Brust war schwer vor Kummer, aber sie konnte keine Tränen vergießen, denn ihre Gedanken kreisten wie hypnotisiert um die Feder. Sie ließ sie vor ihren Augen rotieren. Sie war so weiß, dass sie beinah leuchtete, abgesehen von den winzigen Blutstropfen: Purpurrot auf reinem Weiß. Sie erweckte irgendetwas in ihr.
»Das ist mir egal«, versetzte Ard. »Telagioth hat gesagt, dass diese Erdriesen einen Zauber besitzen, und vielleicht finden sie bald einen Weg hier herein.«
»Den Nythlingen gefällt es hier nicht«, sagte Grant. Er saß zusammengekrümmt an die Mauer gelehnt. Das bleiche Licht des Schlosses funkelte auf seinem schweißbedeckten Gesicht. »Es ist fast so weit, aber ihnen gefällt es hier nicht.«
»He«, sagte Yates, dessen Stimme im Gegensatz zu denen der anderen erregt klang. »Ich … ich glaube, ich kann beinah sehen. Nur Umrisse, hauptsächlich in Grau, aber …«
Karigan freute sich, blieb aber dennoch abgelenkt. Vielleicht erwachte nicht nur in ihr etwas, sondern auch in Yates. Das Schloss. Das Schloss hob offenbar den Einfluss des Waldes, der Yates’ Fähigkeit umgekehrt hatte, wieder auf, aber das erklärte nicht, was mit ihr geschah.
Dann verstand sie es plötzlich, denn sie begann sich zu erinnern. Die Erinnerung kam zu ihr wie eine sanfte Berührung ihrer Stirn, leicht wie eine Feder, wie sanft fallende Schneeflocken, die im silbernen Licht ihres Mondsteins glitzerten. Sie erinnerte sich, im Schnee
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