Pfad der Schatten reiter4
erzählt«, fuhr Ealdaen fort, »dann hätte das vielleicht zu allzu großem Optimismus
geführt, und dadurch hätten wir scheitern können. Es gibt Tausende von möglichen Zeitspuren, die sich ständig verändern, und wir hätten uns irren können. Dies war nur eine Möglichkeit.«
Zeitspuren oder nicht, Karigan konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie wieder einmal auf meisterhafte Weise manipuliert worden war.
DER ROTE VOGEL
Wie ein blutroter Blitz sauste der rote Vogel durch die Düsternis des Schwarzschleierwaldes. Er hob und senkte die Flügel in gleichmäßigem Rhythmus. Der Vogel unterbrach seinen Flug nicht und folgte unbeirrt seiner Richtung, denn da er ein Wesen des Äthers war, brauchte er weder Rast noch Nahrung. Raubtiere nahmen ihn nicht als Beute wahr, sondern als Impuls der Magie, und hielten ihn deshalb nicht auf. Leuchtend und flink schoss er durch die Bäume und die Düsterkeit des Waldes, ein Fluch, der sich seiner Erfüllung näherte.
Erst, als der Vogel die Bresche des großen Walls erreicht hatte, hielt er an und setzte sich auf einen Ast auf der anderen Seite, in der ungewohnten Welt des Sonnenscheins. Er betrachtete die Menschen, die eifrig in ihrem Lager arbeiteten, aber der eine Mensch, den er suchte, war nicht an seinem Platz.
Und doch war er nicht weit weg. Der rote Vogel flatterte von seinem Ast auf und flog nach Osten; der Wall floss an seinen Flügelspitzen entlang. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis der Daseinszweck des roten Vogels sich erfüllte.
Trotz des willkommenen Frühlingssonnenscheins lastete Trübsinn auf Altons Schultern, als er den Pferch verließ und das Lager durchquerte. Es war keineswegs Estral, die den hellen Morgen für ihn verdunkelt hatte, denn sie erfüllte sein Leben mit Licht und Freude. Die Welt erschien ihm jetzt schöner als
je zuvor, und die Musik … Wie hatte er nur durch das Leben gehen können, ohne dass seine Stunden von Musik erfüllt waren? Estral weckte ihn morgens mit einem Lied, trug ihn mit ihrer Lautenmusik durch den Tag und half ihm abends mit ihren Schlafliedern beim Entspannen.
Aber ihre Gegenwart verlieh offenbar nicht nur Alton Auftrieb, sondern dem ganzen Lager. Abends am Lagerfeuer inspirierte sie selbst normalerweise wortkarge Soldaten und Arbeiter dazu, gemeinsam Lieder zu singen und kleine Vorstellungen zu geben, und viele entdeckten dabei ihre verborgenen Talente.
Die Heilung des Walls schritt weiterhin auf fast unsichtbare Weise voran, winzige Risse füllten sich von selbst und schrumpften. Auch das Loch im Dach des Himmelsturms verkleinerte sich weiter, und all das war Estral und ihrer Musik zu verdanken.
Nein, Altons Trübsinn hatte nichts mit Estral zu tun, sondern mit den Pferden. Karigans Kondor, Yates’ Phoebe und Lynx’ Eule wurden immer reizbarer. Inzwischen waren die drei so rastlos, dass man sie von den anderen Pferden des Lagers getrennt hatte anpflocken müssen, denn ihre Launenhaftigkeit war ansteckend, und ein Pferd oder Maultier, das verängstigt war, konnte sich leicht verletzen.
Deshalb hatten Alton und Dale gemeinsam dafür gesorgt, dass die Botenpferde ständig beobachtet wurden, und er hatte Leese ein paar beruhigende Kräuter abgeschwatzt, die er ihnen täglich in ihren Futterbrei mischte. Falls Nachtfalke eifersüchtig war, weil er den anderen Pferden so viel Aufmerksamkeit widmete, zeigte der Wallach es jedenfalls nicht. Botenpferde waren sensibel und wussten anscheinend mehr über die Welt und über das, was ihren Reitern geschah, als gewöhnliche Pferde. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn die Botenpferde auf irgendeine unbekannte Weise miteinander kommunizierten,
deshalb hatte er Nachtfalke und Dales Regenpfeifer in ihrer Nähe angepflockt, aber dennoch weit genug weg, dass ihnen nichts passieren konnte.
Alton suchte Estral in ihrem Zelt, im Messezelt, am Wall und im Turm, aber er konnte sie nirgends finden. Ob sie aus irgendeinem Grund zum Hauptlager geritten war? Er kratzte sich den Kopf, doch dann fiel ihm ein, dass ihr Pferd noch immer im Pferch stand, und sie hatte auch nicht erwähnt, dass sie eine Reise plante. Einer Eingebung folgend ging er zu seinem eigenen Zelt und fand sie dort auf einem Hocker vor dem Eingang, ihren Lautenkasten offen neben sich. Sie bewegte ihre Finger in einer Lockerungsübung und wollte offenbar gleich zu spielen beginnen.
»Da bist du ja«, sagte er. »Warum bist du hier?«
»Aus irgendeinem Grund«, versetzte sie, »unterbrechen mich
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