Pfad der Seelen
meines Schlafmangels holte ich sie mühelos ein und hielt ihre Arme an den Seiten fest, als sie versuchte, nach mir zu schlagen. Ihr Gesicht war von Schmutz und Tränen verschmiert, sie roch nach der tagelangen Reise, und sie bockte in meinen Armen wie ein gefangener Eber. Dann hörte das Bocken mit einem Mal auf. Sie warf ihren Körper gegen meinen und küsste mich fest.
Und so erfuhr ich es schließlich. Der Verdacht, den ich auf der Insel gehegt hatte, der Verdacht, den ich mit so viel Mühe hatte von mir weisen wollen, war richtig.
» Maggie«, keuchte ich, als ich meinen Mund von ihrem lösen konnte, » Maggie, nein. Ich …«
Sie ließ mich los. Wir standen eine ganze Weile dort unter der warmen Mittagssonne, sahen uns nicht in die Augen. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen, was ich tun sollte. Vor ein paar Augenblicken hatte ich Cecilia in den Armen gehalten – Cecilia, die kühl war und niemals etwas erwiderte, die nicht lebte. Cecilia, meine Lady und Liebste. Und doch stand ich dort auf dem Bergpfad, das Land fiel unter mir zum fernen Meer ab, und mein Körper reagierte auf Maggies Nähe. Verwirrung umfing mich wie ein dichter Nebel.
Maggie schien nicht verwirrt zu sein. Sie zögerte nie. Mit von mir abgewandtem Gesicht machte sie sich auf den Weg den Pfad entlang. Als ich losrannte, um sie einzuholen, versetzte sie mir einen harten Schubs.
Ich holte sie ein drittes Mal ein, packte sie an der Hand und drückte drei der sechs Silbermünzen hinein, die ich noch übrig hatte. Wieder schubste sie mich weg. Als ich wieder auf die Beine kam, war sie schon weitermarschiert. Aber die Münzen lagen nicht zwischen dem Unkraut auf dem Weg; ich suchte nach ihnen. Sie hatte sie behalten.
Nun, sie hatte sie sich auch verdient.
Ich blickte ihr nach, bis sie außer Sicht kam. Aber ich folgte ihr nicht. Ich konnte nicht – ich war zu erschöpft von meiner Nacht im Land der Toten. Ich musste jetzt schlafen, meine Kraft sammeln. Für Cecilia.
Ich fand ein verborgenes Dickicht, in dem zarte gelbgrüne Blätter wucherten, krabbelte darunter und schlief im lieblichen, warmen Sonnenlicht ein. Als ich bei Dämmerung erwachte, betrat ich wieder den Pfad der Seelen. Jee war auch nicht zu mir zurückgekehrt, was mich nicht überraschte. Er war Maggie gefolgt, Maggie, die ihm die einzige echte Freundlichkeit entgegengebracht hatte, die die arme kleine Ratte je gekannt hatte. Maggie, die mich liebte und deren Liebe ich nicht erwidern konnte.
Weshalb nicht?, flüsterte etwas in mir. Ich brachte das Flüstern zum Schweigen. Dann betrat ich, während ich nach wie vor in meinem Dickicht saß, den Pfad der Seelen. Aber diesmal hatte ich einen verzweifelten, hoffnungsvollen, wahnsinnigen Plan.
27
Es war der Ort, an dem ich Cecilia zurückgelassen hatte, der mich zum Nachdenken gebracht hatte. Sie war noch dort, wo das Gebirge plötzlich abfiel und das Land Meile um Meile vor mir ausgebreitet lag. Ich hatte einen Teil der Landschaft wiedererkannt, weit unter mir und über den Meeresklippen. Es war die Lichtung, auf der die Blauen der alten Königin den blonden Jüngling gehängt hatten und der zweite Henkersstrick gebaumelt und auf mich gewartet hatte. Unterhalb der Klippe am Ende der Lichtung befand sich der kleine Strand, an dem Hartah und seine Spießgesellen die Frances Ormund hatten auf Grund laufen lassen.
Ich nahm Cecilia bei der Hand und führte sie auf jene ferne Lichtung zu. Jedes Mal, wenn ich nicht mehr weitergehen konnte, ließ ich sie dort und kehrte zu meinem Körper zurück, der im Dämmerzustand in irgendeinem Dickicht oder geschützten Graben lag. Ich schlief, kaufte Nahrung, wenn ich konnte, und wurde so ausgezehrt und dreckig, dass mir Bäuerinnen aus Mitleid Brot gaben. Der Mond wurde abermals voll und begann wieder abzunehmen. Jedes Mal blieb ich nur im Land der Lebenden, bis meine Kraft zurückgekehrt war – Kraft, die ich benutzte, um bis zu der Stelle weiterzugehen, an der ich Cecilia zurückgelassen hatte, den Pfad der Seelen zu betreten und wieder mit ihr zu reisen. Hier gab es keinen Mond, nur den grauen Himmel, durch den Blitze zuckten, den Sturm, der niemals ausbrach, die donnernde Erde. Stetig kamen Cecilia und ich tiefer, zu dem Tal hinab, in dem das Königinnenreich lag.
Was kann ich von jenen Tagen berichten, in denen ich mit Cecilia durch jenes Land gegangen bin, in dem es keine Tage gab, und auch keine Nächte? Der Boden bebte, der Himmel grollte, und sie wusste eigentlich gar nicht, dass
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