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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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ich da war. Und doch barg diese Zeit eine wilde Süße für mich. Jedes Mal, wenn ich Cecilias Hand nahm, den Arm um ihre schlanke Taille legte, sie an mich zog, damit sie auf dem verblühten Boden neben mir lag, strömten Gefühle auf mich ein, und keines dieser Gefühle passte zum anderen. Ich hätte diese Frau, eine Lady, niemals unter anderen Umständen in den Armen halten können. Ich liebte sie. Und in dem runden Steinhaus im Seelenrankenmoor hatte ich …
    Wann immer diese Erinnerung mir auflauerte, fing ich an zu stottern. » Cecilia, es tut mir so leid, ich wusste es nicht, ich wusste es nicht … Oh, Cecilia, ich werde es wieder für dich gutmachen, für uns, ich verspreche es, ich verspreche es  …« Und ich drückte sie an mich und roch den leichten, blumigen Duft ihres Haares, der sich nie veränderte, und eine Art von verzweifelter Freude überkam mich, die im nächsten Augenblick von einem Ansturm schwarzer Schuld abgelöst wurde.
    Und doch ist es die Freude, an die ich mich erinnere.
    Im Land der Lebenden stand die Hütte noch da, verlassen und von Spinnen und Mäusen erobert. Die Leiche des blonden Jünglings war im Laufe des Winters und Frühjahrs verschwunden, vermutlich von den Krähen gefressen, aber die ausgefransten Reste des Henkersstricks baumelten noch von der Eiche. Ich konnte die ganze schreckliche Szene vor mir sehen, als wäre sie keine Erinnerung, sondern handfeste Wirklichkeit: die Witwe Conyers in ihrem durchtränkten Kleid, aufgewühlt von Entsetzen und ihrem Sinn für Gerechtigkeit. Enfield, der Soldat von den Blauen, den es in den Fingern juckte, mich vom selben Baum hängen zu sehen. Und vorher Hartah auf dem Strand, mit winkenden Armen im hämmernden Regen, als die Frances Ormund auf die Felsen traf und die entsetzten Seeleute an die Küste und in die Messer der Strandräuber stolperten. Meine Tante Jo, die mich über den Sturm hinweg anschrie, ihre Züge vom wirbelnden Wasser verschwommen: Roger! Geh! Geh jetzt! Der Einzige, den ich nicht sehen konnte, war ich selbst, der flennende Junge, der sich an den Saum des Kleids der Witwe Conyers klammerte und um sein Leben bettelte. Dieser Junge wollte vor meinen Augen nicht deutlich werden, vor meinem Verstand, in meinen Muskeln. Ich war nicht mehr er.
    Ich betrat den Pfad der Seelen.
    Es war seltsam, im Land der Lebenden einen ruhigen Frühlingsnachmittag zu erleben und während eines Sturms im Land der Toten anzukommen. Zuvor war es stets andersherum gewesen. Nun war der Himmel hier wild, das Meer war aufgewühlt, der Wind heulte genauso wie in der Nacht mit den Strandräubern auf der anderen Seite. Der einzige Unterschied bestand darin, dass kein Regen fiel, und unter meinen Füßen bebte der Boden, als würde er, wie die Frances Ormund, gleich auseinanderbrechen.
    Kauz war dort geblieben, wo ich ihn vor all jenen Monaten verlassen hatte, und saß auf einem Baumstumpf neben dem Weg von der Hütte zur Klippe. Er sprang auf, sobald er mich sah. Er hatte sich nicht verändert: ein flacher Schädel, eine breite Nase, fettiges Haar, undeutliche Stimme. Ein Kind in der zerrissenen Kleidung eines gestrandeten Seemanns, den Messergriff, der wie ein Fisch mit offenem Mund geschnitzt war, noch immer in seiner großen Hand.
    » Herr Hexe!«
    » Ja, Kauz.«
    » Du bist wegen Kauz gekommen.«
    » Ja. Geht es dir gut?«
    Diese einfache Frage verwirrte ihn, nicht zu unrecht. Was bedeutete » gut« – sowohl im Hexenland als auch im Land der Toten? Kauz sagte nichts. Er beäugte mich mit einer Mischung aus Angst, Respekt und Hoffnung. Ich hatte keine Vorstellung, was Zeit für ihn bedeuten mochte, während er hier auf seinem Baumstumpf wartete. Ich dachte auch nicht groß über die Angelegenheit nach. Ich war zu sehr damit beschäftigt, das Mitleid mit ihm mithilfe dessen von mir zu schieben, was ich ihm nun antun würde.
    Es war Kauz gewesen, der mir zum ersten Mal gezeigt hatte, dass die Toten nicht immer wussten, dass sie tot waren. Es war Kauz gewesen, der mir zum ersten Mal gezeigt hatte, dass ein Toter, dem dieses essenzielle Wissen fehlte, kraft seines Willens die Klippenwand herauffliegen konnte. Dieses Wissen hatte ich später benutzt, um Cat Starling vor den Blauen zu retten, die vorgehabt hatten, sie zu verbrennen. Ich hatte sie statt dessen fortfliegen lassen und damit die Soldaten noch weiter davon überzeugt, dass sie sich im Hexenland aufhielten. Bei Kauz hatte ich zum ersten Mal diese List angewandt, und mit Kauz würde ich nun

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