Pfad der Seelen
Köchin hat mich gebeten, Euch alles zu bringen, Herrin«, sagte ich. Es war mir unmöglich, mich mit dem Tablett zu verbeugen, ich hätte es bloß fallen lassen. » Als Euer Page.«
» Du bist nicht mein Page!«, erwiderte sie so heftig, dass die Dienerin erschrak. Die Witwe Conyers fügte hinzu: » Lass uns allein, Alice.«
Die Frau verschwand rasch und zog die Tür hinter sich zu. Das Zimmer war spärlich eingerichtet, aber sauber, und das breite Bett sah gemütlich aus, mit neuen und bunten Stoffen behängt. Außerdem ein Tisch, zwei Stühle und ein helles Feuer im Kamin, das die Feuchte und Kälte vertrieb. Ich hatte keine Ahnung, wo ich heute Nacht schlafen würde. Ich stellte das Tablett auf den Tisch und stand dann unbeholfen da, meine Hände baumelten seitlich herab, und ich war nicht sicher, was ich als Nächstes tun sollte. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen; die Witwe Conyers nahm sich der Situation an.
» Ich weiß nicht, was du bist«, sagte sie, » Hexe oder Scharlatan oder Halunke. Ich weiß nicht, woher du die Dinge weißt, die du über meinen Mann erzählt hast, oder weshalb du bei diesen Männern warst, die das Schiff … das Schiff …«
Sie wandte das Gesicht ab, aber einen Augenblick später hatte sie die Fassung wiedergewonnen.
» Ich weiß nicht, ob du mit meinem verstorbenen James gesprochen hast oder nicht. Er …«
» Ich habe mit ihm gesprochen! Und er sagt, dass er Euch sehr liebt!«
Ich war nicht besser als Hartah, wenn ich ihren Kummer ausnutzte.
Sie fuhr fort, als hätte ich nichts gesagt. » … war ein guter Mann, der beste von allen, und du brauchst mir nicht zu erzählen, dass er mich geliebt hat oder dass seine Seele jetzt an einem besseren Ort als diesem ruht. Ich will, dass du verschwindest, Junge. Unschuldig oder schuldig, Hexe oder nicht, ich will dich nicht mehr unter den Augen haben. Ich ertrage es nicht, dich anzusehen. Geh.«
» Wo soll ich denn hin? Ich habe keine Familie, ich bin nur elf Jahre alt …«
» Das bist du nicht.« Sie starrte mein Kinn an, mit seinem Haarflaum, und meinen Adamsapfel – Dinge, die sie im trüben Licht der Hütte nicht bemerkt hatte.
Ich rief: » Aber ich habe keinen Ort, an den ich gehen kann! Keine Familie, keinen Beruf, kein Geld …«
» Was willst du also von mir? Geld?«
Nein, nein.
» Ich werde dir Geld geben«, sagte sie angeekelt. » Dann geh.«
» Wenn Ihr mir Geld gebt, Herrin, wird man es mir in der ersten Herberge stehlen, in der ich anhalte, oder die ersten Grobiane, die mir allein auf der Straße begegnen, werden es mir abnehmen. Und was soll ich tun, wenn es fort ist? Bitte, Herrin, habt Mitleid …«
» Das gleiche Mitleid, das du für meinen Mann und seine Mannschaft aufgebracht hast?«
» Ich bin es nicht gewesen!«
Sie musterte mich. Vielleicht dachte sie, dass auch meine Verzweiflung nur gespielt war. Aber zuvor hatte ich immer den Schutz von Hartahs großen Fäusten gehabt, auch wenn sie sich manchmal gegen mich gewandt hatten. Ich hatte sein locker sitzendes Messer gehabt, seine Verbindungen zu anderen Schuften wie ihm selbst, sein Wissen über Betrug und Lügen, Fälschung und Diebstahl. Diese verzärtelte Dame mit ihrer überlegenen Tugendhaftigkeit – was wusste sie schon von dem Leben, das ich hatte führen müssen? Ihr Geld und ihre hohe Geburt sorgten für ihre Sicherheit. In diesem Augenblick hasste ich sie beinahe.
Sie sagte: » Ich glaube dir, dass du es nicht warst, der unser Schiff auf die Felsen gelockt und damit auch unser Vermögen vernichtet hat. Aber ich will dich trotzdem nicht ansehen müssen.«
» Dann gebt mir eine Arbeit auf einem Eurer Anwesen, irgendeine bescheidene Tätigkeit, bei der Ihr mich nie zu Gesicht bekommt!«
Sie lachte mit einem so bitteren Beiklang, dass ich zurückfuhr. » Du hörst nicht zu, Roger, was? Die Strandräuber deines Onkels haben alles genommen, was ich habe. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich so arm sein wie du. Es gibt kein Anwesen.«
» Aber … ich verstehe nicht …«
Sie stand auf, schenkte sich vom Tablett ein Glas Wein ein, ging zurück und blieb mit dem Rücken zum Feuer stehen. Ihr Gesicht war in Schatten getaucht. Ihr helles Haar, das inzwischen gewaschen war und sich unter ihrer Haube lockte, bildete einen Heiligenschein um ihre undeutlichen Züge.
» Du bist sehr jung«, sagte sie, mit einer inzwischen ruhigen und erschöpften Stimme. » Und ich kann erkennen, dass du nicht viel Zeit draußen in der Welt verbracht hast.
Weitere Kostenlose Bücher