Pfad der Seelen
Mutter Chilton, als ich eintrat. Meine Verkleidung täuschte sie nicht einen Augenblick lang; sie sagte nicht einmal etwas dazu.
» Du bist gewachsen, Junge. Du bist beinahe ein Mann.«
» Ich bin wegen …«
» Ich weiß, weshalb du gekommen bist.« Sie trat näher an mich heran, und während sie sich bewegte, schien es, als würden sich auch alle Dinge an den Stangen bewegen und auf sie zustreben. In ihren Augen trieben seltsame Farben und Lichter. » Du suchst Lady Cecilia, die dich schon einmal hergeschickt hat.«
» Ja. Ist sie in Sicherheit? Ist sie hier?«
» Sie war hier. Hier und fort. Und sie wird niemals sicher sein.«
Mir stockte der Atem in der Kehle. » Nie? Weshalb? Und wo ist sie hingegangen? Habt Ihr ihr bei der Flucht aus der Hauptstadt geholfen?«
Mutter Chilton antwortete mir nicht gleich. Aus der Nähe betrachtet bestand ihr Gesicht aus glatten Wangen, einer faltigen Stirn und jenen Augen, die gar keine Farbe besaßen. Sie sagte: » Also sind sie im Seelenrankenmoor noch nicht bereit.«
Schon einmal hatte sie das Seelenrankenmoor vor mir erwähnt … » Kommst du aus dem Seelenrankenmoor? Sind sie also so weit?« Bei diesem Besuch war ich schockiert gewesen, dass sie mich mit etwas in Verbindung brachte, das andere nicht einmal beim Namen nennen wollten. Diesmal war es mir gleich. Es ging mir nur darum, Cecilia zu finden und sie zu beschützen.
» Wo ist Lady Cecilia? Habt Ihr ihr geholfen?«
» Das habe ich, Junge. Aber du weißt nicht, weshalb. Du weißt viel, sogar mehr als du glaubst, aber du weißt nicht, was Cecilia ist.«
» Was ist sie?«
» Eine hübsche, hohlköpfige Zunderbüchse, die alles in Flammen setzen wird.«
Ich sagte mit so viel Würde, wie ich aufbringen konnte: » Ich weiß, dass sie nicht viel im Kopf hat, aber sie ist nicht hohlköpfig. Und ja, mich hat sie in › Flammen gesetzt‹, und dafür schäme ich mich nicht.«
Mutter Chilton lachte nicht. Sie schloss die Augen, und ein Ausdruck großen Schmerzes glitt über ihr Gesicht, als hätte ich ein Messer in ihren Eingeweiden gedreht. Ich sprang vor, um sie aufzufangen, falls sie stürzte, aber sie wankte nicht einmal und blieb stehen. Ich denke allerdings, dass ich bei ihren nächsten Worten wankte.
» Ich habe Cecilia in die Unbeanspruchten Lande geschickt. Es ist der einzige Ort, an dem die Königin sie nicht erreichen kann. Caroline hat die Seelenkünste studiert, aber sie besitzt kein Talent. Dennoch ist das der Grund, weshalb die Königin dich erkannt hat. Ich habe Cecilia aufgetragen, in die Unbeanspruchten Lande zu gehen, aber das Seelenrankenmoor nicht zu betreten, unter gar keinen Umständen. Vielleicht kann sie irgendeinen Ziegenhirten oder Bauerntölpel finden, der sie heiratet und für sie sorgt, sie ist ja ein hübsches kleines Kätzchen. Aber du kannst ihr nicht folgen, Junge. Ich dachte einmal, du würdest aus dem Seelenrankenmoor stammen. Das tust du nicht, und du hast bereits genug Aufruhr im Land der Toten verursacht.«
» Ihr … Ihr könnt den Pfad der Seelen ins Land der Toten beschreiten?«
» Nein«, sagte sie, ohne es zu erklären.
Ich widmete mich dem, was wirklich wichtig war. » Ihr habt Cecilia allein in die Unbeanspruchten Lande geschickt?«
» Sie ist nicht allein.« Mutter Chilton legte mir die Hand auf den Arm, und etwas Seltsames geschah: Meine Sicht verschwamm. Vor meinen Augen entstand etwas, ein Bild – aber nein, es war fort. Mutter Chilton zog die Hand zurück.
» Du bist nicht bereit«, sagte sie traurig. » Junge, lauf dem Mädchen nicht hinterher. Sie wurde im Seelenrankenmoor geboren, und obwohl Caroline sie als Kind nach Gloria gebracht hat, stammt sie trotzdem aus dem Seelenrankenmoor. Lauf ihr nicht nach.«
» Ich muss«, sagte ich einfach.
» Du bist ein Narr«, antwortete sie mit der gleichen Einfachheit, und ich wusste nicht, ob sie sich auf meinen Charakter, meine Arbeit für die Königin oder auf beides bezog. Einen langen Augenblick sagte niemand etwas. Das Feuer knisterte im Kohlebecken. Schließlich fuhr Mutter Chilton fort: » Versuche nicht, bei Tageslicht als Mädchen oder als Barde der Wilden durchzugehen. Du kannst nicht einmal singen. Zieh dieses lächerliche Nachtgewand aus, und reib dir das Gesicht mit dem Stoff ab. Ich werde dir einen Umhang geben.«
Weil ich es überdrüssig war, wie ein Kind herumkommandiert zu werden, während ich mich auf meiner heldenhaften Suche nach meiner Liebsten befand, sagte ich mürrisch: » Die rote Farbe
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