Pfad des Tigers - Eine unsterbliche Liebe: Roman (German Edition)
der Oberfläche, wo meine geheimsten Gefühle verborgen waren, brodelte es. Ich war fehl am Platz, kam mir wie ein Fremdkörper vor. Indien rief nach mir, manchmal leise, manchmal mit wildem Gebrüll, aber das Flehen setzte nie aus, und ich fragte mich, ob es mir überhaupt je gelingen würde, ein ganz normales Leben zu führen.
Thanksgiving bedeutete ein Tofu-Truthahnfest bei Sarah und Mike. Während des Essens glitt mein Blick immer wieder zu der Fülle an festlichen Kürbissen, ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, wie solch freundlich anmutende Gewächse zu einer Gefahr werden konnten, und bekam die Frage nicht aus dem Kopf, welche Rolle sie bei der nächsten Aufgabe spielen könnten.
Es war ein kalter, regnerischer Tag, aber im Kamin meiner Pflegeeltern prasselte ein hübsches Feuer. Anders als erwartet schmeckten ein paar der Gemüsegerichte richtig lecker. Von dem zucker- und glutenfreien Kuchen hingegen nahm ich lieber Abstand.
»Und, was gibt’s Neues? Irgendwelche heißen Typen im College, von denen du uns erzählen möchtest?«, neckte mich Sarah.
Ich blickte von meinem Teller auf. »Äh, nun ja, ich habe wirklich Dates«, räumte ich schüchtern ein. »Mit Li und Jason. Nichts Ernstes. Wir waren erst ein paarmal aus.«
Sarah war begeistert, und sie und Mike löcherten mich beide mit unzähligen Fragen, die ich geschickt umging.
Zum Glück hatte Jennifer Li und mich ebenfalls zum Thanksgiving-Essen eingeladen, und ich nutzte die Gelegenheit, um mich frühzeitig von meinen Pflegeeltern zu verabschieden und zu Jennifer zu flüchten. Sie wohnte in einem hübschen Haus in West Salem. Ich brachte eine Zitronen-Baisertorte mit, die erste, die ich je zu backen gewagt hatte, und war stolz auf das Ergebnis. Ich hatte das Baiser zwar einen Hauch zu lange im Ofen gelassen, aber abgesehen davon sah die Torte gut aus.
Lis Gesicht hellte sich auf, als er mich an der Tür sah, und er sagte zu Jennifer: »Siehst du? Ich hatte das größere Stück des Truthahnknochens, und mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen!«
Er gab zu, dass er sich bereits beim Thanksgiving-Essen bei seiner Familie vollgestopft, aber noch ein Plätzchen für meinen Kuchen freigelassen hatte. Und Li stand zu seinem Wort und verputzte die Hälfte meiner Torte.
Jennifer hatte einen Kürbis-, einen Brombeer- und einen Käsekuchen gebacken. Ich nahm mir von jedem ein kleines Stück und war im Himmel. Li stöhnte und beschwerte sich, dass sein Magen so voll war, dass er sich nicht bewegen könnte und hier schlafen müsste. Bei der Vorstellung hüpften Jennifers Kinder begeistert auf und ab, wobei ihnen die Pilgerhüte vom Kopf rutschten, aber sie beruhigten sich augenblicklich, als Jennifer ihnen die Erntedankfest -Folge der Peanuts in den DVD -Player steckte.
Während ich Jennifer beim Aufräumen der Küche half, wollte sie wissen: » Und? Wie läuft’s mit …«, sie senkte absichtlich die Stimme, »Li?«
»Hm, ganz gut.«
»Seid ihr zwei, du weißt schon, zusammen?«
»Das ist schwer zu sagen. Ich denke, es wäre zu früh, das so zu bezeichnen.«
Sie runzelte die Stirn und schaute nachdenklich ins Spülwasser. »Liegt es immer noch an dem anderen, an dem, über den du nie reden willst, dass du dich nicht durchringen kannst?«
Meine Hand mit dem Geschirrtuch, gerade hatte ich ihre hübsche Truthahnplatte trocken reiben wollen, erstarrte in der Luft. »Tut mir leid, falls ich zu geheimniskrämerisch war. Es ist einfach nur so hart, über ihn zu reden. Was willst du wissen?«
Sie nahm einen Teller, schrubbte ihn und spülte ihn mit sauberem Wasser ab. »Okay, wer ist er? Wo ist er? Warum seid ihr zwei nicht zusammen?«
»Nun, er ist in Indien. Und wir sind nicht zusammen , weil …«, flüsterte ich, »weil … ich ihn verlassen habe.«
»War er gemein zu dir?«
»Nein, nein. Nichts in der Richtung. Er war … perfekt .«
»Er wollte also nicht, dass du fährst?«
»Nein.«
»Wollte er dich denn nicht begleiten?«
Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. »Ich musste ihn anflehen, dass er mir nicht folgte.«
»Dann verstehe ich das nicht. Warum hast du ihn verlassen?«
»Er war zu … Ich war zu …« Ich seufzte. »Es ist kompliziert.«
»Hast du ihn geliebt?«
Ich stellte die Platte ab, die ich seit fünf Minuten trocken rieb, und drehte das Handtuch in den Händen. Sanft flüsterte ich: »Ja.«
»Und jetzt?«
»Und jetzt … Wenn ich allein bin …, habe ich manchmal das Gefühl, ich kriege
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