Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
wir wohl nichts tun«, sagte Gabriella zu Xerxes, nachdem der Butler sie allein gelassen hatte. »Also kann ich ebenso gut die Liste abschließen, die ich gestern angefangen habe. Wenigstens das sollte ich tun.«
Xerxes runzelte die Stirn. »Du schuldest diesem Mann nichts, Mädchen.«
»Abgesehen von einer Entschuldigung, meinst du?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich nahm die Stellung an und bin nun im Begriff, die Vereinbarung rückgängig zu machen. Es widerstrebt mir, aber …« Sie blickte sich fröstelnd in der Bibliothek um. »Ich denke, es ist das Beste so.«
»Wir alle halten es für das Beste«, bestätigte Xerxes.
Nathanial würde dem gewiss zustimmen, sollte sie denn jemals Gelegenheit finden, mit ihm zu reden. Heute, dachte sie. Heute würde sie ihm alles sagen.
Sie machte dort weiter, wo sie gestern aufgehört hatte, und füllte Seite um Seite mit Notizen zu den unterschiedlichen Sammlungen. Am späten Vormittag war Lord Rathbourne immer noch nicht erschienen.
»Wir könnten ihm eine Nachricht schreiben und gehen«, schlug Xerxes vor, der sich in diesem finsteren Gemäuer nicht minder unbehaglich fühlte als Gabriella.
»Nein«, sagte sie streng. »Aber ich werde eine Weile nach draußen gehen.«
Sie zog die Vorhänge von den Glasflügeltüren zurück, worauf Sonnenlicht den dunklen Raum flutete. Es war ein Jammer, dass dieses Haus stets verdunkelt war. Sonst könnte es richtig hübsch sein. Gabriella öffnete die Türen und stieg die zwei Stufen in den Innenhof hinunter. Wie gestern postierte sich Xerxes, ihr Wächter, an der Tür, wo er sich gegen den Rahmen lehnte. Und wie gestern wirkte seine Anwesenheit beruhigend auf Gabriella.
Sie ging die wenigen Schritte um die Hecke und erstarrte. Lord Rathbourne saß am Ende einer nahen Bank mit dem Rücken zu Gabriella und hielt den Kopf leicht schräg, als lauschte er auf irgendetwas. Bei aller Liebe, Lordschaft hin oder her, war es unverzeihlich unhöflich von ihm, ihre Bitte um eine Unterredung einfach zu ignorieren. Sie begriff gar nicht, wie er sich hierher schleichen konnte, ohne dass Xerxes oder sie es bemerkt hatten.
»Mylord«, sagte sie und trat näher. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen.« Am besten brachte sie rasch vor, was sie zu sagen hatte, und verschwand. Sie holte tief Luft. »So sehr ich die Chance zu schätzen weiß, welche mir die Stellung als Ihre Kuratorin bietet, bin ich nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass ich Ihr großzügiges Angebot ablehnen muss.«
Sicher wollte er eine Begründung hören, nicht wahr? Also sollte sie ihm eine geben, die sich besser anhörte als dass ihr das Haus und seine Gegenwart unheimlich waren. Sie schritt noch näher zu ihm. »Meine Pläne für die Zukunft … meine Zukunft vielmehr … hat sich geändert.« Das war nicht ganz die Wahrheit, aber auch keine reine Lüge. Ihre Pläne hatten sich geändert, oder zumindest würden sie sich mit ein bisschen Glück ändern. »Ich möchte Sie meiner Dankbarkeit versichern für das Vertrauen, das Sie in mich setzten, und bitte um Verzeihung, dass ich Sie enttäuschen muss. Leben Sie wohl.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging. Und blieb wieder stehen.
Ihr Betragen war der Gipfel der Feigheit! Sie sollte dem Mann zumindest erlauben, ein einziges Wort dazu zu sagen. So viel Höflichkeit schuldete sie ihm. Sie wandte sich wieder zu ihm. »Mylord?«
Immer noch antwortete er nicht. Er war zweifellos wütend.
»Lord Rathbourne«, sagte sie, machte die Schultern gerade und näherte sich ihm. »Ich verstehe vollko…« Mitten im Wort erstarrte sie.
Entsetzen lähmte ihr die Zunge. Der Mann war ganz offensichtlich tot, wie ihr schon seine glasigen, leeren Augen verrieten. Noch deutlicher jedoch machte es der Schnitt quer über seinem Hals. Rötlichbraunes Blut war in seine Kleidung gesickert und bildete eine Pfütze zu seinen Füßen.
Gabriella konnte nicht wegsehen. Sein Gesicht war aschgrau. Ihr kam der Gedanke, dass jede andere Frau ohnmächtig oder wenigstens schreien würde. Sie hingegen war nicht so zartfühlend. Im Laufe der Jahre hatte sie mehrere Mumien studiert. Allerdings war es eine Sache, einen dreitausendjährigen Ägypter zu betrachten, und eine gänzlich andere, einen erst seit Kurzem toten britischen Lord. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie machte auf dem Absatz kehrt, stolperte ein paar Schritte zum nächsten Blumenbeet und würgte.
Fast sofort eilte Xerxes herbei. »Gabriella, was ist mit dir?«
»Mir geht es
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