Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Salon, dicht gefolgt von Andrews, der ein Tablett mit einer Karaffe Brandy und Gläsern trug. Wahrscheinlich dieselbe Karaffe, die er an ihrem allerersten Abend hier gebracht hatte. Wie passend – oder wie ironisch. Nathanial nickte Andrews zu, und der Butler verließ das Zimmer. Anscheinend war Nathanial nicht sicher, was er tun sollte. »Brandy?«, fragte er sie.
»Ich würde meinen, Tee ist um diese Tageszeit angemessener.« Seltsam, aber trotz des schönen Tages waren ihre Fingerspitzen eiskalt. »Aber mich fröstelt ein wenig, und wie ich bereits häufiger feststellte, ist Brandy sehr angenehm, wenn man friert. Oder nervös ist. Findest du nicht auch? Er beruhigt die Nerven.«
Nathanial schenkte zwei Gläser ein und reichte ihr eines. Als sie es nahm, bemerkte sie, dass ihre Hand zitterte. Nathanial sah sie an.
»Du brauchst mich nicht so anzusehen.« Sie trank einen kräftigen Schluck, und die Wärme war eine Wohltat. »Mir geht es gut. Sehr gut. Ja, ich gebe zu, dass meine Hand zittert, aber es war bisher eben ein beunruhigender Tag. Ich schätze, jeder würde ein wenig zittern, nachdem er einen toten Viscount im Garten gefunden hat.«
»Ja, selbstverständlich.«
»Einem wunderschönen Garten«, murmelte sie. »Recht friedlich.« Abgesehen von dem toten, blutüberströmten Mann mit den starrenden Augen und der überraschten Miene.
Nathanial nippte an seinem Drink und betrachtete Gabriella besorgt.
»Ich bin keine zarte, fragile Blume!«
»Ich weiß.« Er kam näher. »Du bist nicht wie die meisten Frauen.«
»Nein, das bin ich ganz gewiss nicht. Die meisten Frauen hätten zumindest geschrien, wären sie mit einem solchen Anblick konfrontiert. Ich habe nur …«
Er nickte. »John hat es mir erzählt.«
»John?« Sie zog die Brauen zusammen. Xerxes . »Ja, natürlich, John.«
»Er schickte gleich Nachricht, aber der Bote war erst vor wenigen Minuten hier. Ich wollte gerade zu dir fahren.«
»Das wäre nicht nötig gewesen«, entgegnete sie mit einem strahlenden Lächeln. »Mir geht es gut.«
»Wirklich?«
Sie lachte, was selbst in ihren eigenen Ohren komisch klang, ein winziges bisschen hysterisch. »Vollkommen gut. Und der Brandy ist weit besser als Tee.«
»Fühlst du dich besser?«
»Viel besser.«
Er musterte sie. »Es ist verständlich, musst du wissen, also, deine … Reaktion, meine ich.«
»Ja, das will ich annehmen. Allein der Widerspruch zwischen der Stille des Gartens und die«, sie erschauderte, »Gewalt dessen, was dort geschehen sein muss, reichte aus, dass jedem übel geworden wäre.«
»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
»Absolut.« Sie trank noch einen Schluck. »Er muss schon eine Weile tot gewesen sein, denn wir waren den ganzen Morgen dort und haben nichts bemerkt. Folglich musste es letzte Nacht geschehen sein.« Sie nickte. »Er sah ziemlich … tot aus.«
»Gabriella.«
»Nicht erst seit Kurzem tot.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste, wie jemand aussieht, der erst seit Kurzem tot ist, aber er sah so, nun ja, steif aus. Ziemlich, deutlich tot.«
»Gabriella«, wiederholte Nathanial ruhig.
»Plappere ich?«
»Ja.«
»Das ist lachhaft!« Sie nahm sicherheitshalber noch einen Schluck Brandy. »Ich plappere nie.«
»Und dennoch …«
»Ich denke nicht, dass es ein Raub war«, fuhr sie fort, als hätte er gar nichts gesagt. »In der Schatzkammer war nichts verändert, oder nicht so, dass es mir auffiel. Und es wäre mir aufgefallen. Ich bemerke solche Dinge, denn ich bin eine sehr aufmerksame Beobachterin.«
Ohne auf seine sorgenvolle Miene zu achten, redete sie weiter. »Und falls jemand den Viscount berauben wollte, gibt es eine Menge Dinge, unbezahlbare Dinge, die man sich mühelos in die Tasche stecken könnte, ohne ihn zu ermorden.« Abermals schüttelte sie den Kopf. »Nein, es war kein Raub. Allerdings war er kein sehr guter Mensch, nicht wahr? Ich stelle mir vor, dass alle möglichen Leute ihm mit Freuden die Kehle …« Sie stürzte den Rest ihres Brandys hinunter und streckte Nathanial das Glas hin. Ihre Hand zitterte unkontrollierbar, wie sie befremdlich vage wahrnahm, als sähe sie die Hand von jemand anderem.
»Aber du zitterst noch.« Er nahm ihr das Glas ab und stellte es mit seinem auf den Tisch.
»Das ist nichts.«
»Und deine Hände«, sagte er, als er beide in seine nahm, »sind eiskalt.«
»Ja, nicht wahr?« Ihre Stimme war ebenfalls seltsam distanziert. »Wie überaus ungewöhnlich.«
»Dir geht es gar nicht gut.«
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