Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
gut.« Ihr war noch etwas mulmig, aber sie fühlte sich erheblich besser. Nachdem sie sich den Mund gewischt hatte, richtete sie sich wieder auf und wandte sich dem scheußlichen Bild zu.
»Du solltest ihn nicht ansehen, Mädchen«, sagte Xerxes, der ihr ein Taschentuch reichte.
»Ich habe ihn bereits gesehen.« Sie tupfte sich den Mund ab. »Er wird kaum schrecklicher aussehen, als eben.« Sie betrachtete den Toten. »Ihm wurde die Kehle aufgeschlitzt, nicht?«
»Ja, scheint so.« Xerxes nahm ihren Arm und führte sie ins Haus zurück. »Falls du genug gesehen hast …«
»Mehr als genug. So etwas würde man mitten in London nicht erwarten. In unzivilisierten Regionen durchaus, und ich würde behaupten, dass derlei in Kleinasien oder Ägypten häufig vorkommt. Dort wäre man wohl nicht einmal überrascht, einen Mann mit aufgeschnittener Kehle an einem schönen Frühlingstag im Garten zu entdecken, nicht im …«
Xerxes sah sie streng an. »Mädchen, was plapperst du denn?« Er setzte sie auf das Sofa und läutete nach dem Butler.
»Unsinn, ich plappere nicht. Ich bin keine Frau, die plappert.« Sie tat lediglich ihre Beobachtungen kund. Schließlich hatte sie noch nie zuvor einen Toten gesehen und hätte auch nicht erwartet, jemals jemanden zu sehen, dessen Kehle aufgeschlitzt worden war. Zudem fürchtete sie, sie könnte schreien und nie wieder aufhören, falls sie nicht fortfuhr, vernünftige Bemerkungen zu machen. Auf jeden Fall konnte sie nicht anders, als weiterzureden.
Franks schickte nach der Polizei, und es kam Gabriella vor, als füllte sich die Bibliothek binnen kürzester Zeit mit Menschen – obwohl es ebenso gut Stunden gewesen sein könnten. Sie hatte jedwedes Zeitgefühl verloren. Und sie wünschte, Xerxes würde sie nicht ansehen, als könnte sie jeden Moment dem Wahnsinn verfallen. Ihr ging es gut. Sehr gut. Sogar ihr Magen hatte sich beruhigt. Und der freundliche Constable, der als Erster eintraf, fand offenbar nichts Merkwürdiges an ihren Bemerkungen zu seiner Lordschaft Naturell oder ihrer Ansicht, dass so gut wie jeder, der ihn gekannt hatte, ein gewisses Verlangen gehabt haben dürfte, ihm den Hals aufzuschlitzen. Sie natürlich nicht, denn sie hatte keinen Grund, ihm den Tod zu wünschen. Schließlich hatte er ihr eine Chance geboten, die für die meisten Frauen unvorstellbar wäre. Nein, nein, es ergäbe gar keinen Sinn für sie, ihn zu ermorden.
Der Constable hatte gefragt, wo er sie fände, sollte er sie nochmals sprechen müssen, und ließ sie gehen – allerdings erst, nachdem er einen vielsagenden Blick mit Xerxes getauscht hatte. Es war die Art Blick, wie Männer sie zeigten, wenn sie es mit auffallend unvernünftigen Frauen zu tun hatten, was Gabriella ärgerte. Sie mochte ein bisschen zu viel geredet haben, doch jedes einzelne Wort war sehr wohl von Bedeutung gewesen, und sie war alles andere als unvernünftig.
Auf der Heimfahrt redete sie pausenlos weiter. War Xerxes der Gesichtsausdruck von Rathbourne aufgefallen? Zugegeben, sie könnte es sich einbilden, aber sie fand, seine Lordschaft hätte überrascht ausgesehen. Andererseits war Überraschung wohl nicht verwunderlich, sofern man nicht erwartete, dass einem die Kehle aufgeschlitzt würde wie bei einem Schwein. In welchen Fall man gewiss Schritte unternähme, es zu verhindern. Meinte er nicht auch? Und dachte Xerxes gleichfalls, dass der Viscount schon eine Weile tot gewesen sein musste? Schließlich waren sie beide gute drei Stunden im Haus gewesen, und sie hätten seine Lordschaft oder denjenigen, der bei ihm gewesen war, gewiss bemerkt, wären sie in dieser Zeit erst in den Innenhof gegangen. Und selbst wenn sie niemanden gesehen hätten, müssten sie etwas gehört haben. Wahrscheinlich machte es Geräusche, wenn jemandem die Kehle durchgeschnitten wurde, ein Gurgeln oder ähnliches.
In dem Moment, als sie über die Schwelle von Harrington House traten, befahl Xerxes einem Diener, nach Nathanial zu schicken, und brachte Gabriella in den Salon. Anscheinend ließ Xerxes’ Tonfall keinen Zweifel an der Dringlichkeit, denn Nathanial war binnen Minuten da. Xerxes fing ihn vor der Salontür ab – vermutlich um ihn bezüglich Gabriellas Gemütsverfassung vorzuwarnen. Was absurd war. Mit ihrem Gemüt war alles bestens, sogar hervorragend, bedachte man, dass sie erst kürzlich einen blutüberströmten, überraschend dreinblickenden und sehr toten Viscount in einem Garten gefunden hatte.
»Gabriella?« Nathanial kam in den
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