Pfand der Leidenschaft
Stirnrunzeln betrachtete, entdeckte sie, dass die rote Seidenschleife verschwunden war.
Sie war fein säuberlich abgeschnitten worden.
Er hatte sie gestohlen!
Viertes Kapitel
Eine Woche später waren die fünf Hathaway-Geschwister mit all ihren Habseligkeiten von London in ihr neues Haus in Hampshire umgesiedelt. Trotz der mühsamen Arbeit, die sie noch erwartete, war Amelia froher Hoffnung, dass die neue Umgebung ihnen allen guttun würde.
Das Haus am Primrose Place rief zu viele traurige Erinnerungen wach. Das Leben war nicht mehr dasselbe, seit ihre Eltern verstorben waren, ihr Vater an einem Herzleiden, ihre Mutter wenige Monate später durch den Kummer. Es machte den Anschein, als hätten die Wände das Leid der Familie regelrecht aufgesaugt, bis der Schmerz selbst ein Teil der Farbe, der Tapete und des Holzes geworden war. Amelia konnte weder den Kamin im Salon ansehen, ohne an ihre Mutter erinnert zu werden, wie sie dort mit ihrem Nähkorb gesessen hatte, noch in den Garten gehen, ohne an ihren Vater zu denken, der viel Zeit damit verbracht hatte, seine preisgekrönten Gallica-Rosen zu stutzen.
Amelia hatte das Haus ohne große Bedenken verkauft, nicht aus Mangel an Sentimentalität, sondern weil sie zu viele Gefühle mit dem Gebäude verbanden. Zu viel Trauer, zu viel Leid. Außerdem war es unmöglich, nach vorne zu blicken, wenn man ständig an einen schmerzhaften Verlust erinnert wurde.
Ihre Geschwister hatten keine Einwände erhoben, als Amelia ihnen den Vorschlag unterbreitet hatte, ihr Zuhause zu verkaufen. Leo war alles gleichgültig – man hätte ihm erzählen können, dass seine Familie auf der Straße leben wollte, und er hätte auf die Neuigkeit mit einem ungerührten Achselzucken reagiert. Win, die zweitälteste Schwester, war noch zu geschwächt von einer langwierigen Krankheit, um Amelias Entscheidung anzuzweifeln. Und Poppy und Beatrix, die beide noch Kinder waren, sehnten sich nach einer Veränderung.
So weit es Amelia betraf, hätte die Erbschaft zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Obwohl sie sich insgeheim eingestehen musste, dass es in den Sternen stand, wie lange sie den Titel überhaupt behalten konnten.
Tatsache war, dass niemand Lord Ramsay sein wollte. Für die vorhergehenden drei Lord Ramsays war der Titel Hand in Hand gegangen mit einer Verkettung außergewöhnlicher Missgeschicke und hatte im verfrühten Ableben der Männer gegipfelt. Was wohl zum Teil erklärte, weshalb die weit entfernten Verwandten der Hathaways zufrieden waren, dass der Titel an Leo gefallen war.
»Ist mit dem Erbe auch Geld verbunden?«, war Leos erste Frage gewesen, als man ihm erklärte, dass er in den Adelsstand erhoben worden war.
Die Antwort war ein eingeschränktes Ja gewesen. Leo erbte ein kleines Anwesen in Hampshire sowie eine bescheidene jährliche Summe, die jedoch nicht ausreichte, um die Kosten für die Instandhaltung des Hauses zu decken.
»Wir bleiben weiterhin mittellos«, hatte Amelia ihrem
Bruder verkündet, nachdem sie den Brief des Anwalts mit der genauen Beschreibung des Besitztums und aller anderen Angelegenheiten genau studiert hatte. »Das Anwesen ist klein, die Dienerschaft und der Großteil der Pächter sind weggezogen, das Haus ist in einem schäbigen Zustand, und auf dem Titel liegt allem Anschein nach ein Fluch. Was das Erbe ein wenig nutzlos erscheinen lässt, um es vornehm auszudrücken. Allerdings gibt es einen entfernten Cousin, der in der Erbfolge womöglich sogar noch vor dir kommt – vielleicht können wir ihm den schwarzen Peter unterschieben. Es besteht die Möglichkeit, dass unser Ur-ur-urgroßvater als uneheliches Kind geboren wurde, was uns erlauben könnte, das Erbe auszuschlagen …«
»Ich will den Titel«, war ihr Leo bestimmt ins Wort gefallen.
»Weil du genauso wenig an Flüche glaubst wie ich?«
»Weil ich schon dermaßen verflucht bin, dass ein weiterer keine Rolle spielen würde.«
Da sie niemals zuvor in Hampshire gewesen waren, reckten alle Hathaway-Geschwister – mit Ausnahme von Leo – die Hälse, um einen besseren Blick auf die Landschaft im Süden Englands zu erhaschen.
Amelia musste bei der überschwänglichen Begeisterung ihrer Schwestern lächeln. Poppy und Beatrix, beide dunkelhaarig und blauäugig wie sie selbst, waren in bester Laune. Dann senkte sich Amelias Blick auf Win und sie sah sie eindringlich an, um ihren gesundheitlichen Zustand zu prüfen.
Wie sehr unterschied sich Win von der übrigen
Hathaway-Familie!
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