Pfand der Leidenschaft
Sie war die Einzige, die das flachsblonde Haar und die grüblerische Verschlossenheit ihres Vaters geerbt hatte. Sie war schüchtern und ruhig und ertrug ergeben jeden Schicksalsschlag. Als vor einem Jahr das Scharlachfieber im Dorf grassierte, waren Leo und Win schwer erkrankt. Leo hatte sich wieder vollständig erholt, aber Win war seitdem anfällig und blass. Der Arzt hatte bei einer Untersuchung festgestellt, dass ihre Lungen vom Fieber dauerhaft geschädigt waren und sie womöglich nie wieder genesen würde.
Amelia weigerte sich allerdings hartnäckig zu akzeptieren, dass Win ein Leben lang krank sein könnte. Egal was es kostete, sie würde Win gesund pflegen.
Es war kaum möglich, sich einen besseren Ort als Hampshire für Win und den Rest der Hathaways vorzustellen, eine der schönsten Grafschaften in ganz England, mit sich schlängelnden Flüssen, riesigen Wäldern, grünen Wiesen und feuchtem Heideland. Das Ramsay Anwesen lag in der Nähe von Stony Cross, einer der größten Marktstädte der Gegend. Stony Cross war über die Grenzen Hampshires hinaus bekannt für sein Vieh, die Schafe, das Holz, das Getreide, einer Fülle an Käsesorten und Wildblumenhonig … es war tatsächlich ein reicher Landstrich.
»Ich frage mich, warum das Ramsay Anwesen keinen Ertrag abwirft«, grübelte Amelia, während die Kutsche an saftigen Auen entlangratterte. »Hampshire ist so fruchtbar, man müsste sich schon hart anstrengen, damit hier nichts wächst.«
»Aber unser Land ist verflucht, nicht wahr?«, fragte Poppy leicht besorgt.
»Nein«, entgegnete Amelia, »nicht das Anwesen an sich. Nur der Titelinhaber. Und das ist Leo.«
»Oh.« Poppy entspannte sich. »Dann ist ja alles in Ordnung.«
Leo machte sich nicht einmal die Mühe, etwas zu erwidern, sondern kauerte griesgrämig in seinem Sitz. Obwohl ihm die eine Woche erzwungener Nüchternheit einen klaren Kopf beschert hatte, hatte sich seine schlechte Laune keinen Deut gebessert. Mit Merripen und den Hathaway-Schwestern, die ihn keine Sekunde aus den Augen ließen, war ihm jede Möglichkeit genommen, etwas anderes als Wasser oder Tee zu trinken.
In den ersten Tagen hatten Leo ein unkontrollierbares Zittern und eine schreckliche Ruhelosigkeit geplagt. Nun, da er das Schlimmste überstanden hatte, war er beinahe wieder der Alte – auch wenn ihn nur wenige Menschen auf achtundzwanzig geschätzt hätten. In dem vergangenen Jahr war Leo unvorstellbar gealtert.
Je näher sie Stony Cross kamen, desto lieblicher wurde die Landschaft, bis sie geradezu einem wunderschönen Gemälde glich. Die Kutsche rollte an strohgedeckten Häusern, Mühlen, hinter Trauerweiden verborgenen Weihern und mittelalterlichen Steinkirchen vorbei. Drosseln pickten reife Beeren von den Hecken, Schwarzkehlchen hockten auf blühenden Weißdornbüschen. Die Weiden waren mit herbstlichen Krokussen und leuchtendem Safran übersät, und die Bäume waren in ein golden und rot leuchtendes Gewand gehüllt. Weiße Schafe grasten auf den Feldern.
Poppy atmete tief und genüsslich ein. »Köstlich!«,
rief sie. »Ich frage mich, woran es liegen mag, dass die Landluft so anders riecht?«
»Womöglich liegt es an dem Schweinestall, an dem wir gerade vorbeigefahren sind«, murmelte Leo.
Beatrix, die in einem kleinen Büchlein über den Süden Englands geblättert hatte, frohlockte: »Hampshire ist für seine außergewöhnlichen Schweine bekannt. Sie werden ausschließlich mit Eicheln und Bucheckern aus den hiesigen Wäldern gefüttert, was dem Schinken seinen besonderen Geschmack verleiht. Es gibt einen jährlichen Würstchen-Wettbewerb.«
Leo bedachte sie mit einem mürrischen Blick. »Großartig. Ich hoffe inständig, wir haben ihn noch nicht verpasst.«
Win, die in einem dicken Wälzer über Hampshire und seine Umgebung las, gab ebenfalls ihr Wissen zum Besten: »Die Geschichte von Ramsay House ist beeindruckend.«
»Unser Haus steht in einem Geschichtsbuch?«, erkundigte sich Beatrix entzückt.
»Es wird in einem kleinen Absatz abgehandelt«, sagte Win, ohne vom Buch aufzuschauen. »Aber ja, das Ramsay House wird erwähnt. Natürlich ist es nichts im Vergleich zu unserem Nachbarn, dem Earl von Westcliff, auf dessen Grund und Boden sich eines der prächtigsten Anwesen von ganz England befindet. Verglichen dazu ist unseres eine Hundehütte. Und die Familie des Earl wohnt dort schon seit fast fünfhundert Jahren.«
»Dann muss er aber schrecklich alt sein«, bemerkte Poppy, ohne die Miene zu
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