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Pfarrers Kinder Muellers Vieh

Pfarrers Kinder Muellers Vieh

Titel: Pfarrers Kinder Muellers Vieh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amei Müller
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»Brillenschlange« und »Gouvernante« waren noch die feineren Ausdrücke, die ich zu hören bekam. Dabei war ich so stolz, als ich mit der neuen Errungenschaft aus dem Laden des Optikers kam. Ich fand, daß ich mit der Brille schön und klug wirkte. Nun mußte ich in der Schule nicht mehr bis zur Tafel vorlaufen, um dort die Wörter lesen zu können. Ich sah alles ganz genau von meinem Platz aus. Aber die anderen Kinder fanden mich nicht schön. Sie lachten, wenn mir die Brille von der Nase rutschte. Nachmittags beim Spielen durfte ich nie mehr Prinzessin sein. Nach der Meinung meiner Spielkameraden gab es auf der ganzen weiten Welt keine Prinzessin mit einer Brille. Also war ich dazu verurteilt, immer die undankbaren Parts der Gouvernante, Stiefmutter oder Hexe zu übernehmen.
    Als ich beim Turnen einen Purzelbaum machte, fiel die Brille herunter und zerbrach. Ich wollte keine neue mehr haben und weinte, als ich wieder zum Optiker mußte. Die Welt war schöner, wenn man sie nicht so genau sah. Ohne Brille betrachtet wirkten die meisten Leute freundlich und heiter, allerdings nur solange sie nicht redeten. Mit der Brille schien mir die Welt mit lauter unfreundlichen und traurigen Menschen bevölkert. Beate trug natürlich keine Brille. Ein Onkel, der sich gerne geistreich gebärdete, prägte das Bonmot: »Beate hat scharfe Augen und Amei eine scharfe Zunge.«
    »Die meisten Mädchen brechen leider ihr Studium ab, um zu heiraten«, sagte Tante Luischen, als ich zu ihr kam, um in Göttingen zu studieren. Sie betrachtete mich kurz und fugte dann hinzu: »Aber mit dieser Brille brauchen wir diesbezüglich keine Sorge zu haben.«
    Nun hatte ich mich während der jahrelangen Vernachlässigung durch die Männer in eine Art Männerfeindschaft hineingesteigert. Ich wollte nicht heiraten, sondern studieren und große Dinge für die Menschheit vollbringen. Trotzdem verletzte mich Tante Luischens Bemerkung. Die alte Wunde blutete wieder. Ich legte die Brille ins Futteral. Von da an stiegen meine Chancen bei den Herren, zugleich aber verwandelte ich mich für sie in ein rätselhaftes Wesen. Kam ich, wie üblich, zu spät in die Vorlesung, so hatte mir der oder jener einen Platz neben sich reserviert und winkte. Ich blickte freundlich lächelnd in die Runde, ignorierte die Winkenden und drückte mich irgendwo in eine Bank hinein. Das ärgerte die Herren, das fanden sie gemein. Auch grüßte ich nicht zurück, wenn sich ein Bekannter auf der anderen Straßenseite schier umbrachte, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Man hielt mich für kapriziös und schwierig. Dabei war ich nichts von alledem, sondern nur kurzsichtig. Ich sah die Leute einfach nicht. Erst wenn sich ein beleidigter Mensch direkt vor mir aufpflanzte und Genugtuung forderte, weil ich ihn geschnitten hatte, wurde ich seiner freudig gewahr.
    Einmal lud mich ein Student in die Oper ein. Wir saßen ganz oben im billigen dritten Rang und sahen die »Zauberflöte«. Ich erbhckte allerdings unten auf der Bühne nur ein Kaleidoskop von ineinander fließenden Farben, aber ich hörte die Musik und war zufrieden. Dann sang die Königin der Nacht ihre Koloraturen. Der Student neben mir seufzte. Ich nahm an, er seufze aus Entzücken über die Schönheit der Dame. Bis jetzt hatte ich nur unbeschreiblich schöne Königinnen der Nacht gesehen. »Sie ist wunderschön«, sagte ich deshalb zustimmend, damit er merkte, daß neben ihm eine mitfühlende Seele und vor allem ein sehender Mensch saß.
    »Was, du siehst sie?« rief er und drückte sich ungeniert zu mir auf meinen Platz. Er drehte den Kopf hierhin und dorthin und rückte dann wieder beiseite. »Was gibt’s denn da Schönes?« sagte er mürrisch, »du siehst doch auch bloß die Beine. Warum muß die blöde Person auf einer Treppe stehen? Diese gemeinen Regisseure denken immer nur an die reichen Leute im Parkett!«
    »Aber der Gesang ist herrlich«, sagte ich.
    »Gesang, Gesang!« schimpfte er, »geh ich dazu in die Oper!«
    Auch als Maria im heimatlichen Krippenspiel mußte ich ohne Brille auftreten, denn eine bebrillte Maria war undenkbar. Ich fand mich ganz hübsch mit dem blauen Gewand und dem weißen Kopftuch. Mein Traum hatte sich erfüllt, und ich war fest entschlossen, die Gemeinde mit meinem Spiel zu rühren. Das Krippenspiel fand in der Kirche statt. Während die Engel mit ihren wallenden Gewändern eine Mauer bildeten, mußten dahinter Maria undjosef aus der Sakristei robben, die Krippe hinter sich herziehen, vor

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