Pfarrers Kinder Muellers Vieh
Gegenteil von Marie-Antoinette. Hatte jene ihre Fingernägel sorgsam manikürt, so knabberte diese dauernd an ihnen herum. Faßte Marie-Antoinette nur ungern mit an, so packte Helene derart willig zu, daß Türen krachten, Scheiben klirrten und Gläser zerbrachen.
Sie fand das Mädchenzimmer schön und das Bett bequem. Wenn sie morgens aufstand, zitterte über uns die Decke, und die Lampe kam ins Schaukeln. Dann rauschte ein kleiner Wasserfall an unserem Fenster vorbei hinunter in den Garten. Helene pflegte nämlich den Nachttopf, mit dem ich das Mädchenzimmer versehen hatte, einfach aus dem Fenster zu leeren. Von dieser Praxis ließ sie trotz Gegenvorschlägen und Vorwürfen nicht ab. Sie schäme sich, so sagte sie, mit gefülltem Nachttopf einem menschlichen Auge entgegenzutreten. Also könne sie den Nachttopf nicht in unserem Wohnungsklo und auch nicht in dem unteren ausleeren. Als aber die Blumen in der so begossenen Rabatte zu welken begannen, hatte sie ein Einsehen. Sie schlug vor, wir sollten morgens für zehn Minuten das Haus verlassen, damit sie in Ruhe das Nötige verrichten könne. Dieser Vorschlag rief bei uns wenig Begeisterung hervor. Was sollten wir denn draußen tun zehn Minuten lang? Was würden die Leute denken? Wollte Helene, daß wir uns den Tod holten, wenn es regnete und stürmte? Nein, das wollte Helene nicht. Sie war ratlos und begoß weiterhin die Rabatte. Jetzt aber tat sie dieses mit schlechtem Gewissen wegen der Blumen. Schließlich verzichtete sie beim Nachtessen auf den geliebten Süßmost und meinte mit traurigem Lächeln, daß sie sich am Abend keine Flüssigkeit mehr leisten dürfe. Ihr Leiden schnitt uns ins Herz.
Nun war Helene ein Morgenmensch und sang dazu noch gern. Schon beim Aufstehen jubilierte sie wie eine Lerche und hörte beim Frühstück nur auf, weil sie nicht gleichzeitig singen und essen konnte. Mit gequältem Lächeln ertrug ich die morgendlichen Lobgesänge, aber ihre Aufforderung, doch miteinzustimmen, lehnte ich entsetzt ab. Das hatte mir gerade noch gefehlt! Niemals hatte ich morgens gesungen, ich würde es auch fürderhin nicht tun, und wenn Helene noch so vorwurfsvoll guckte.
Eines Morgens, als sie singend den Frühstückstisch deckte, kam mir die rettende Idee. »Helene«, sagte ich, »du hast eine so schöne Stimme. Wie wäre es, wenn du morgens singen würdest, sobald du mit dem Nachttopf nach unten kommst? Niemand von uns wird sich blicken lassen, solange wir dich singen hören.«
»Aber ich singe jetzt auch schon, ohne Topf«, sagte Helene. »Richtig, aber wenn du meinen Vorschlag annimmst, dann wissen wir, warum du singst und bleiben in unseren Zimmern. Natürlich darfst du erst zu singen anfangen, wenn du die Treppe herunter kommst, nicht schon beim Aufstehen. Weißt du, sonst müssen wir zu lange im Bett bleiben. Auch wird es gut sein, wenn du hinterher noch ein Weilchen still bist, damit wir nicht denken, du kommst schon wieder mit dem Topf.«
Gut, Helene war einverstanden. Sie wählte die Lieder am Abend vorher sorgsam aus, und so sang sie sich denn von »All Morgen ist ganz frisch und neu...« bis »Wach auf mein Herz und singe...« durch die Morgenlieder des Gesangbuches. Auch unsere Söhne wuchsen ganz selbstverständlich in dieses morgendliche Ritual hinein. Wenn sie in der Frühe durch die Wohnung geisterten, um sich Spielsachen ins Bett zu holen, und Helenes Gesang ertönte auf der Treppe, dann ließen sie alles stehen und liegen, schrien »Weg da! Topp tommt!« und schlüpften in ihr Zimmer. Die Tür ließen sie allerdings einen Spalt offen, um den geheimnisvollen Topfgang miterleben zu können.
»Diese Sau!« schrie Andreas eines Tages und stürmte wutentbrannt in die Küche. »Diese Sau hat mir meine Burg kaputt gemacht!« Mit der Sau meinte er seinen Bruder. Helene putzte Salat. »Man sagt nicht Sau!« sprach sie, »das ist ein ganz häßliches Wort!«
»So, so, aber du tusch singen!« schimpfte Andreas.
»Nie«, sagte Helene, »nie nehme ich ein so schmutziges Wort in den Mund!«
»Und was hasch mit dem Topp gesungen?« fragte Andreas. »Heute morgen?«
Helene überlegte. »Morgenglanz der Ewigkeit’ habe ich gesungen. Da gibt’s kein häßliches Wort.«
»Sing’s mal!« verlangte Andreas. Sie war freundlich zu den Kindern, also sang sie, und Andreas hörte gespannt zu. Die zweite Strophe kam.
»Halt!« rief Andreas, »jetzt, jetzt hast du’s gsungen!«
Sie wiederholte »Deiner Güte Morgentau fall auf unser matt Gewissen,
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