Pfarrers Kinder Muellers Vieh
sich einig, daß der Augenblick der Anfechtung nur kurz, die Tat jedoch groß und edel gewesen sei. Großmama wickelte die Raupe zierlich in ein Salatblatt, führte die Packung zum Munde und verspeiste sie. Befreit seufzte die Gastgeberin. Das Ärgernis war verschwunden. Die Küche des Hauses blieb frei von jedem Makel. Großmama hatte die fürstliche Ehre gerettet. Dafür wurde ihr nach dem Mahl von der dankbaren Fürstin diese Brosche überreicht. Meine Mutter hatte sie geerbt und in hohen Ehren gehalten. Weil nun auch ich Pfarrfrau geworden war und weil ich dem Format der seligen Großmutter so wenig entsprach, hatte man mir die Brosche in der Hoffnung überreicht, sie werde durch ihr bloßes Dasein eine heilsame Wandlung in mir vollziehen.
Ich trug die Raupengeschichte auch zu Markte. Besonders meinem Sohn Andreas, der jeden Mehlklumpen aus der Soße fischte, erzählte ich sie in allen Einzelheiten und sparte nicht mit lehrreichen Nutzanwendungen. Er hörte die Geschichte immer wieder gern und voll frommem Schauder. Dann wurden wir einmal bei einer alten Dame zum Essen eingeladen. Sie war zwar nicht von fürstlichem Geblüt, aber sie hieß Frau Kaiser, bewohnte ein schloßähnliches Haus und war sehr vornehm. Andreas, damals fünf Jahre alt, hielt sie für eine wirkliche Kaiserin und hatte schon mehrfach verstohlen in die Schubladen der alten Schränke geschaut, um die Krone zu finden.
Nun saßen wir an festlich gedeckter Tafel. Der Salat wurde serviert, auf meinem Teller saß eine Schnecke. Verstohlen blickte ich in die Runde. Die Gastgeberin unterhielt sich mit Manfred, aber Andreas hatte die Gabel beiseite gelegt und schaute aufmerksam auf meinen Salatteüer. Er sah die Schnecke, und er kannte die Geschichte von Großmutters Raupe.
Es half nichts, ich mußte das Tier essen, wollte ich dem Kind nicht das letzte bißchen Glauben an die Größe der Mutter nehmen. Ich mag Schnecken nicht einmal gekocht im Restaurant aus appetitlicher Pfanne. Diese hier war putzmunter und festverbunden mit ihrem Haus. Ich wünschte der seligen Großmutter dieses und jenes, aber bestimmt nichts Gutes, wickelte die Schnecke in ein Salatblatt und war bereit, sie zum Munde zu fuhren.
Da sagte Andreas laut und deutlich: »Mulchen, da ist ne Schnecke!«
Ich ließ die Gabel sinken, die Schnecke kroch wohlbehalten aus dem Blatt. »Du hättest sie fast gefressen!« sagte Andreas vorwurfsvoll, »und sie ist doch noch lebendig!«
Die alte Dame unterbrach ihre Unterhaltung.
»Nein, so was!« rief sie, »ich habe den Salat drei mal gewaschen. Was für ein Glück, daß Andreas so gute Augen hat!« Mein Salatteller wurde fortgetragen, ich bekam einen neuen, und Frau Kaiser ermahnte uns, nur jedes Blättchen genau zu betrachten, bevor wir es zum Munde führten. Manfred erzählte wieder einmal, wie ich ihm eine Linsensuppe vorgesetzt habe, in der sich ein Stein befand, und wie ihm diese Suppe fast einen Zahn gekostet hätte. Es wurde ein vergnügtes Mittagessen. Als wir gingen, nahm die alte Dame Andreas beiseite und schob ihm ein Päckchen zu. »Das Taschenmesser wollte ich eigentlich meinem Enkel schenken«, sagte sie, »aber weil du so ein aufgeweckter und gescheiter Bub bist, sollst du es haben.«
Auf dem Heimweg sprang Andreas voraus und schnippelte mit seinem Taschenmesser Blätter von den Büschen. Dann blieb er stehen und wartete auf uns. »Weißt Mulchen«, sagte er, »die Geschichte von Großmutters Raupe find ich richtig blöd!«
Hatte ich früher nur im Schatten der pfarrfräulichen Ahnenreihe gestanden, so hüllte mich in Weiden die Größe der Vorvorgängerin vollends in Dunkelheit. Wer konnte neben dieser Frau bestehen? Nicht einmal ihrem Mann war es gelungen. Er predigte zu lang, er war zu grob. Er fuhr zu oft in die Stadt, und er war außerdem kein Schwabe. Doch man ertrug ihn in Geduld, denn man hatte ja sie. Ihr Heiligenschein warf auch auf seine Mängel ein verklärendes Licht. Sie wirkte im Segen. Ging mit selbstgekochten Süppchen in die Häuser der Armen. Legte selbstgestrickte Höschen auf die Wiegen der Neugeborenen. Stellte selbstgezogene Blumen auf den Altar. Sie benutzte den Backofen in der Waschküche und teilte das Brot freigebig an Bedürftige aus, besonders wenn es schon einige Wochen alt und daher leicht verträglich war. Sie sorgte dafür, daß ein Fäßchen echten Birnenmostes im Keller lag, und auch der Garten war unter ihren fachkundigen Händen trefflich gediehen. Sie erntete die frühesten Rettiche
Weitere Kostenlose Bücher