Pfefferbeißer - Harz Krimi
wohler. War er etwa
auch mit dem »Weil nicht sein kann, was nicht sein darf«-Virus infiziert? Oder
stimmte vielmehr das Vorurteil, dass alle Männer Feiglinge sind?
***
Als Sina in ihrem Büro am Fenster stand und ihr Blick im
Grün des alten Ahornbaums ausruhte, dachte sie an Torsten. Sie hatte ihn zwar
gestern Abend nicht mehr gesehen, aber sie wusste ihn in seinem Zimmer, sicher
vor der bösen Welt. Sollte er schluchzen, der Tag würde kommen, an dem er allen
verfügbaren Göttern dankbar war, sich zu einem passenderen Zeitpunkt frei für
ein Kind entscheiden zu können. Was mit Chao los war, hatte sie allerdings nicht
ganz begriffen. Er war, eine Viertelstunde nachdem Caros Vater gegangen war,
nach Hause gekommen. Nicht betrunken, wie sie befürchtet hatte, allerdings tat
er so geheimnisvoll. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu ahnen, dass er
ihr etwas verschwieg. Obwohl ihr wegen Torsten der Brocken, mehr noch, der
ganze Harz von der Seele gefallen war, hatte sie sich ihrem Liebsten gegenüber
ziemlich pampig verhalten. Das tat ihr jetzt leid.
»Warum hast du heute nicht gekocht?«, hatte sie ihn gefragt. Dahinter
versteckte sich unüberhörbar: »Wo bist du gewesen?«
Als Antwort hatte Chao den Backofen geöffnet und einen Topf
Gemüsesuppe mit Reis herausgezogen.
»Du hättest sie nur warm zu machen brauchen«, antwortete er beleidigt
und ging duschen. Die Stimmung war gründlich im Eimer gewesen. Anschließend
verzog er sich nach oben in seine Bibliothek und schloss die Tür ab. Erst als
sie schon im Bett gelegen hatte, war er ganz vorsichtig ins Schlafzimmer
geschlichen und zu ihr unter die Decke gekrochen. Aber ohne sie anzufassen.
***
Gegen zehn Uhr stand Sina vor der Kanzlei Klawitter im
Claustorwall und wartete auf das Summen des Türöffners. Sie hatte umdisponieren
müssen. Sandrock, der ursprünglich auf ihrem Plan gestanden hatte, war für zwei
Tage verreist, um mit einer Delegation Windsor, der britischen Partnerstadt
Goslars, nach Jahren wieder einen offiziellen Besuch abzustatten.
Der Oberbürgermeister könne ja nicht die ganze Zeit strammstehen,
nur weil der Polizei irgendwann einfiele, ihn sprechen zu müssen, hatte seine
Sekretärin am Telefon gegiftet. Und ob er das könne, hätte Sina am liebsten
gekontert. Schließlich waren sie gezwungen, auf kleinste Veränderungen der
Sachlage umgehend zu reagieren. Aber sein Stellvertreter, Dr. Ernst-August
Klawitter, würde fürs Erste genügen. Allerdings wollte sich Sina diesmal nicht wieder
wie ein Grünschnabel abfertigen lassen.
Die Tür sprang auf, sie betrat den kühlen Flur mit der Marmortreppe
und den rosa und blauen Fensterscheiben in der Höhe.
»Herr Dr. Klawitter lässt Sie grüßen«, sagte die Assistentin am
Empfang mit professioneller Freundlichkeit, »er hat erst vor einigen Minuten
angerufen und bedauert, dass es bei Gericht später wird. Er kann Ihnen erst in
etwa fünfundvierzig Minuten zur Verfügung stehen. Wenn Sie sich ins Wartezimmer
setzen möchten?«
Mit einem langen schlanken Arm wies sie auf den Raum, den Sina schon
kannte. Diese Herrschaften schieben einen vor sich her, wie es ihnen passt,
ging ihr durch den Kopf.
»Nein danke, ich komme dann später wieder«, antwortete sie und
versuchte ein ebenso professionelles Lächeln. »Sagen Sie bitte Herrn Dr. Klawitter
von mir, dass ich ihn auch gerne aufs Präsidium einlade.«
»Ich werde es ausrichten«, kam kleinlaut zurück.
Draußen auf dem Flur überlegte Sina, was sie bis zu Klawitters
Eintreffen machen sollte. Es lohnte sich nicht, ins Büro zurückzufahren. Sie
beschloss, eine Runde durch das Viertel zu drehen. Bekam ihr dickes Fell
allmählich Löcher? Wenn ja, dann war frische Luft und Durchatmen das beste
Rezept dagegen.
»Diesmal entkommen Sie mir nicht!«
Der Mann entzog sich noch ihren Blicken, aber die kräftige, sonore
Stimme erkannte Sina sofort wieder. Klawitter senior vergaß man nicht so
schnell, vor allem nicht seine Stimme. Ebenso wenig wie das schmale, kluge
Gesicht mit der ausgeprägten Nase und den immer noch neugierigen Augen.
»Um diese Zeit trinkt jeder vernünftige Mensch einen Kaffee in anregender
Gesellschaft«, sagte er. Jetzt wurden seine Füße, die in klobigen Filzpantoffeln
steckten, dann die Beine, dann die übrige Gestalt im dunkelbraunen, etwas zu
weit gewordenen Nadelstreifenanzug, auf der Treppe sichtbar. Er blieb stehen.
»Jetzt sagen Sie bloß nicht, dass Sie auf anregende Gesellschaft verzichten
können.
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