Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
andere – ihre Schwester und Spielkameraden vom Hof – mir alle Kleider vom Leib gerissen und mich mit Dreck eingeschmiert. Die Kleider haben sie über das Klettergerüst gehängt, und als das Spiel vorbei war, hatte ich die Wahl, entweder nackt vor aller Augen auf den Hof zu gehen und meine Kleider einzusammeln oder in den Keller zu schleichen. Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit, und als sich die Kinder zerstreut hatten und ich es wagte, in den Hof hinaufzugehen, um meine Kleider zu holen, waren sie verschwunden. Sowohl die Kinder als auch die Kleider.
Das Klettergerüst, ja. Es ist gegen eine neuere, modernere Variante ausgetauscht worden, mit Kletterwand und Seil und eingebauter Rutsche. In das alte – ein großer Würfel aus Luft mit einem Rahmen aus roten Stahlstangen – konnte man hineinkriechen und hinaufklettern und oben Schweinebammel machen. Dort verbrachte ich einen ganzen Nachmittag, hinaufgejagt von Lise-Lott und ihren Genossen. Ich saß oben auf der Spitze und ließ die Beine baumeln, schweißgebadet von der Aussicht auf das, was mich erwartete, wenn ich hinunterklettern würde. Sie bewarfen mich mit Erdklumpen und Schneebällen. Hin und wieder versuchten sie, mich hinunterzuziehen, indem sie an meinen Füßen zerrten, aber ich klammerte mich fest, als ginge es um mein Leben. Sie schrien mich an und redeten über mich – wie hässlich und dumm ich doch wäre –, und manchmal gingen sie ein Stück weg, um mich in Sicherheit zu wiegen und zum Hinabsteigen zu verführen, doch wenn ich es tat, kamen sie wieder herangestürmt. Das Ganze endete damit, dass Lise-Lott ein paar Glasscherben in einen Schneeball backte, bevor sie damit nach mir warf. Eine der Glasscherben schnitt eine tiefe Wunde in meinen Nacken, und der darauf folgende Schmerz sorgte dafür, dass mein krampfartiger Griff sich löste und ich hinunterfiel, wobei ich mir zu allem Überfluss auch noch eine Gehirnerschütterung holte. Zur allgemeinen Belustigung musste ich mich erbrechen, aber als sie das Blut sahen, liefen sie alle davon. Ich taumelte nach Hause, musste ins Krankenhaus, um die Wunde nähen zu lassen, und die nächsten Tage im Bett verbringen. Immerhin etwas.
Lise-Lotts Papa hatte mich einmal im Keller eingesperrt, weil ich Lise-Lott gesagt hatte, dass mein Papa Polizist sei, was ich natürlich nur erfunden hatte. Lise-Lotts Papa war natürlich auch kein Polizist, obwohl sie das Tag für Tag behauptete – wahrscheinlich, damit niemand aufzumucken wagte –, aber trotzdem schien er die Befugnis zu haben, jemanden einzusperren. Wenn ich mich richtig erinnere, arbeitete er als Wärter in Karsudden, einer psychiatrischen Klinik für Schwerverbrecher. Gut vorstellbar, dass er diesen Trick dort gelernt hatte. Es funktionierte jedenfalls ausgezeichnet. Ich erzählte nie wieder Lügen über meinen Papa, aber Lise-Lott machte weiter wie gewohnt.
Nachdem ich dort eine Weile gestanden und mich an meine armselige Kindheit erinnert habe, begebe ich mich durch den Kellereingang in das Haus, in dem Lise-Lott mittlerweile wohnt. Auf der Treppe nach oben begegne ich ihrer Mama, die gerade aus der Wohnung gekommen ist. Lise-Lott ist also zu Hause, und außerdem sehe und höre ich, dass die Tür unverschlossen ist, was die ganze Sache noch einfacher macht. Die Mutter hat sich kaum verändert. Sie hat ein paar Kilo zugenommen, aber immer noch dieselbe dauergewellte Tantenfrisur, denselben ewig wiederkäuenden Kaugummi-Mund und dieselbe griesgrämige und dummdreiste Miene. Natürlich sieht sie mich nicht, obwohl wir einander berühren, als wir uns auf der Treppe begegnen. Ich höre gedämpfte Fernsehstimmen aus der Wohnung, bevor die Tür zufällt. Jetzt weiß ich, dass ich sie habe.
Ich gehe ein paar Treppen weiter nach oben und warte ein paar Minuten an einem Fenster, das auf die Straße hinausgeht. Erneut wird die Haustür aufgestoßen, und jemand läuft die Treppen hinauf. Der Briefträger eilt vorbei, ohne von der unansehnlichen Gestalt Notiz zu nehmen, an der er vorüberkommt, und schon kommt er wieder zurück mit seiner Post auf dem Weg nach unten. Auch dieses Mal nimmt er mich nicht wahr.
Nachdem er verschwunden ist, gehe ich zu Lise-Lotts Wohnung hinunter, öffne vorsichtig die Tür, schleiche mich in die dunkle Diele, schließe die Tür lautlos hinter mir und schiebe den Riegel vor.
Mit einer Zigarette in der Hand sitzt sie da und nimmt ein Fußbad, während irgendeine idiotische Seifenoper im Fernseher läuft. Ich
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