Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
denke, dass die Wirklichkeit wie so oft die Fantasie übertrifft, und trete einen Schritt vor ins Licht. Sie sieht nicht einmal verwundert aus, sondern schaut mich einfach nur abgestumpft an und fragt, worum es geht. Ich erkläre ihr, worum es geht, während ihr Blick ohne merkbare Reaktion zwischen dem Fernseher und mir hin- und herwandert.
»Daran kann ich mich nicht erinnern«, sagt sie nur und zieht ein paar Mal tief an ihrer Zigarette, bevor sie sich wieder dem Fernseher zuwendet.
Ich mache ein paar Schritte auf sie zu und packe sie mit einer Hand am Nacken.
»Dann versuch, dich zu erinnern«, sage ich drohend, aber sie schaut mich nur verwundert an.
»Was zum Teufel machst du da?«, sagt sie ruhig. »Bist du verrückt?«
»Vielleicht«, antworte ich.
»Lass mich doch los!«, sagt sie aufgebracht.
»Erinnere dich«, sage ich und drücke meine Finger fest in ihren Hals. »Erinnere dich, was du mit meinem Nacken gemacht hast.«
Ich versuche, ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, erzähle ihr davon, aber sie glotzt mich nur dumm an. Da werfe ich sie auf den Boden, sodass sie niederknien muss. Ich habe ihren Nacken nach wie vor fest im Griff. Dann drücke ich ihren Kopf in die Wanne. Ich halte sie eine Weile unter Wasser, und sie zappelt mit Armen und Beinen, ohne dabei die Zigarette loszulassen, die zwischen Zeigefinger und Mittelfinger klemmt. Als ich sie schließlich wieder aus dem Wasser hole, ist sie munter geworden. Sie prustet und zwinkert, um das Wasser aus den Augen zu bekommen und mich deutlich sehen zu können.
»Was willst du, dass ich tun soll?«, stöhnt sie schließlich, nachdem sich ihre Atmung ein bisschen normalisiert hat.
»Ich will, dass du dich erinnerst«, sage ich, ihren Nacken immer noch fest im Griff. »Dass du dich erinnerst, es verstehst und um Verzeihung bittest.«
»Aber ich erinnere mich doch nicht! Ich kann doch nichts dafür …«
»Du musst dich erinnern«, unterbreche ich sie, »du musst dich erinnern, wie ihr mich tagaus und tagein gequält habt. Du musst verstehen, dass man einen Menschen nicht auf diese Art misshandeln kann, wie du und deine Freunde es gemacht haben, ohne dass es Spuren hinterlässt. Tiefe Spuren, unheilbare Wunden. Verstehst du das nicht? Verstehst du nicht, dass es dein Kind hätte sein können, das da draußen mit zerschlagenem Gesicht und zerschlissenen Kleidern im Dreck lag? Was hättest du da für ein Gefühl gehabt?«
»Das … das wäre ein schreckliches Gefühl gewesen«, jammert sie, und ihre Augen füllen sich mit Tränen, die hinabrollen und sich mit den Wasserrinnsalen auf ihren Wangen vereinigen.
»Warum hast du es dann getan?«, frage ich resigniert.
»Ich weiß doch nichts davon, dass ich so etwas getan habe!«, ruft sie verzweifelt. »Wir waren doch nur Kinder, ich kann gar nicht glauben …«
Ihr Gerede und ihr mieses Gedächtnis hängen mir allmählich zum Hals raus, also drücke ich sie wieder unter Wasser – diesmal länger. Ich sehe, wie die Zigarette auf ihre Finger hinunterbrennt, und schließlich lässt sie sie fallen, als sie sich daran verbrennt. Als ich sie schließlich wieder hochhole, ist sie vollkommen am Ende und vermag ihren Körper nicht mehr aufrecht zu halten, sodass ich meinen Griff um ihren Nacken lockern und ihren Kopf an den Haaren hochziehen muss. Ich werfe ihren Kopf hin und her, und sie hustet und keucht mehrere Minuten lang, ohne dass sie ein Wort herausbringen kann. Währenddessen erzähle ich ihr von gescheiterten Träumen, von einer Kindheit ohne Sonne, von einem Leben in Einsamkeit und von einer nackten, verkümmernden Seele. Als sie ihr Sprachvermögen endlich wiederfindet, krächzt sie ein »Entschuldigung«. Ich glaube ihr nicht, aber das spielt keine Rolle. Sterben wird sie sowieso.
»Dein Leiden wird zu kurz sein«, sage ich, »meines hat achtunddreißig Jahre gedauert. Aber meine Arme werden langsam müde. Tschüs, Lise-Lott.«
Zum letzten Mal drücke ich ihren Kopf in das Fußbad, aber sie hat schon längst aufgegeben. Reflexhaft zappelt sie eine Weile, und dann wird sie still. Ich lasse sie kniend mit dem Kopf in der Wasserwanne zurück, aber ich kann es nicht lassen, ihr die erloschene Zigarette zurück zwischen die Finger zu stecken, bevor ich aufstehe.
Im Fernsehen streitet sich irgendjemand, und einer stürmt aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Ich gehe in aller Ruhe und schließe die Tür hinter Lise-Lott.
DIENSTAG
Petra Westman arbeitete wie üblich in
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