Pfeilgift: Katinka Palfys Siebter Fall
denn nicht wegen Michael scheiden lassen?«
»Nee, natürlich nicht. Die hatte von Hagen genug und von meiner Mutter und von mir. Ich bin nicht so salonfähig für die besseren Kreise!« Marie krümmte sich wieder. »Weißt du, der Michael, der hat sich erhofft, dass die Paula in seine Arme gelaufen kommt. Aber das war ein Wunschtraum. Die Paula mag ihn gern, aber ob sie ihn gleich geheiratet hätte?« Marie sah ihre Hände an, als sollten sie ihr die Frage beantworten. »Ich glaub nich. Nee. Die Paula wollte nur raus aus allem.«
»Haben Sie Geld von Hagen bekommen?«
Marie starrte Katinka an. Ihr Gesicht schien ganz klein zu werden.
»Wieso?«
»Ich frage nur.«
»Kannste nich mal das Fenster zumachen? Es ist arschkalt hier drin.«
Katinka sah, dass sie zitterte.
»Nicht!«, rief sie, als Marie erneut nach der Flasche griff. Aber Marie trank in langen Zügen. »Lass das!«, schrie Katinka sie an. Die Flasche war schon leer. Sie kullerte aus Maries Hand.
»Die haben Kohle ohne Ende«, würgte Marie hervor. »Kohle, haufenweise Kohle, Hagen und seine Freunde. Die bringen die Knete alle in den Osten.«
»In den Osten?«
»Sag ich dir doch.« Sie kippte zur Seite.
»Marie!« Katinka rüttelte sie, aber sie blieb mit ausdruckslosem Gesicht liegen.
Katinka zog das Federbett über sie und wählte den Notruf.
»Cuno«, schrie sie, als sie der Rettungsleitstelle die Situation erklärt hatte, und stürmte ins Nebenzimmer. Dort hockte Cuno neben Miriam auf einem Sitzkissen und feixte. Katinka funkelte ihn an.
»Professionell ist was anderes«, sagte sie nur.
Sie wartete neben Maries Matratze hockend auf den Notarzt.
»Das Mädchen kenne ich«, sagte der Mann seufzend. »Das Haus auch.«
»Wohnen hier noch andere?«
»Der Eigentümer will das Haus abreißen. Heizung gibt es nicht, fließend Wasser auch nicht. Wo sie den Strom herhaben, ist mir ein Rätsel.« Er legte einen Zugang an Maries Arm. Marie wimmerte. Katinka strich ihr über das kurze Haar und murmelte einsilbige, tröstende Worte. Miriam kam ins Zimmer geschlichen und sah ihnen nägelkauend zu.
»Holen Sie bitte ein paar Anziehsachen für Marie«, sagte Katinka zu ihr. Miriam verschwand.
»Ich bin hier schon mindestens zum dritten Einsatz«, fuhr der Notarzt fort. Er war klein und korpulent, aber seine Hände waren schlank und ließen auf einen sensiblen Charakter schließen. »Keiner weiß, was sie eingeworfen hat. Alkohol allein wird es nicht sein. Wenn sie in die Klinik kommt, wird ein Screening gemacht, und dann werden wir sehen.«
Marie zitterte am ganzen Körper.
»Ihr Schweine«, presste sie hervor. »Mir ist kalt. Mir ist so kalt.«
Cuno steuerte seinen Bus schweigend durch den Stadtverkehr. Energisch drückte er den Zigarettenanzünder.
»Was machen wir jetzt?«, fragte er schließlich.
»Fahr mich zu meinem Auto«, sagte Katinka. »Ich will bei Paula vorbeischauen.«
»Ich kann dich direkt zur Klinik chauffieren.«
»O.k. Weißt du was?«, sagte sie und schluckte ihren Ärger herunter. »Wir sollten Ruth Stein in die Froschgeschichte einweihen. Die müssen doch längst auf die Abkürzungen gestoßen sein.«
Cuno zuckte die Achseln.
»Ich arbeite ungern mit der Polente zusammen«, erklärte er. »Aber wenn du es für nötig hältst.«
»Du bist ja richtig zahm.«
»Reg mich nicht auf!« Er warf die Kippe aus dem Fenster und folgte den Schildern zum Leopoldina-Krankenhaus. »Wie machen wir jetzt weiter?«
Katinka seufzte.
»Ich weiß es selber nicht. Eigentlich können wir nicht groß was tun. Wenn Wertinger der Mörder ist…«
Cuno lachte auf.
»Den können wir nicht mehr fragen. Vielleicht ist er es nicht, aber die Bullen freuen sich, wenn sich ihre Akten flott schließen lassen. Wieder ein netter kleiner Erfolg.«
Katinka fühlte sich elend.
»So einen desolaten Fall hatte ich noch nie. Ein Mord, ein Selbstmord, ein Suizidversuch–und dann auch noch Marie.«
Cuno hielt an der Straße.
»Ich warte hier.«
»Klar. Bis später.«
Katinka sprang aus dem Bus.
An seinem zehnten Geburtstag hatten sie ihn geholt.
Daran war nur sein Bruder schuld. Der so viel weniger Mut hatte als er! Immerhin hatte der Große ihn angestiftet. Hatte das Feuerzeug mitgehen lassen, als sie mit der Mutter in den Drei Kronen den Geburtstag feierten. Mittags waren sie dort. In einem unbeobachteten Moment hatte sein Bruder das Feuerzeug eingesteckt. Es gehörte einem von den Männern, die Tag für Tag in der Schwemme standen und Bier
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