Pferdekuss
Oder wirst du etwa daheimbleiben, um die Kinder großzubringen?« – »Wozu denn?«, knurrte er. »Was verdienst du schon als Sekretärin? Ist das deine Vorstellung von Selbstbestimmung? Sekretärin?« Vielleicht war das mein feministischer Follikelsprung. Die Argumente kamen erst später. Was hatte ich ihm damals geantwortet? Was nur? War ich damals wirklich fähig gewesen, ihm etwas vorzuhalten wie: »Was weißt du von Selbstbestimmung? Du hast dich doch noch immer nicht von deinem Vater emanzipiert.« Hatte ihm das die Sicherung rausgehauen? Oder war ich noch weiter gegangen? Meine Erinnerung hörte hinter Metzingen auf. Hatte ich ihm da womöglich seine Schuldkomplexe vorgeworfen, die ihn zu dem zärtlichen, reflektierten und hypersensiblen Mann gemacht hatten, den ich so liebte?
Ein Recht hätte ich dazu nicht gehabt, denn mal ehrlich: Was wusste ich denn von Selbstbestimmung? Ohne diesen Unfall wäre ich nie aus Vingen rausgekommen. Dörfer lahmten. Man konnte sich den Segen städtischer Anonymität nicht vorstellen. Ohne Mamas Wohnung und den Job in vertrauter Umgebung glaubte man sich verloren. Ich wäre nach Vingen zurückgekehrt in dem festen Glauben, nur dort befänden sich Heimat und Freunde, wenn Sally mich nicht bei sich aufgenommen hätte, um mich aus der Trostlosigkeit zu holen, mir zu zeigen, wie man eine Wohnung suchte, und mich zu zwingen, auf eine Zeitungsannonce hin bei der Emanzenzeitschrift Amazone anzufangen. Allerdings waren die ersten Jahre in der Stadt hart gewesen. Ich hatte gelesen, was mir unter die Augen kam, um bei dem Gewirbel von Bildung mithalten zu können und um zu begreifen, warum eine Madonna aus Plastik auf beleuchteter Muschel in einem bestimmten Ambiente keine religiöse Drohung, sondern einen Kultgag darstellte, über den man sich ausschüttete vor Lachen.
»Sie hätten ruhig ein Vesper servieren können«, mäkelte meine Mutter, als sie die Haustür aufschloss, »aber was will man erwarten? Diese Pietisten. Nur mit Geiz kommt man zu was. Jetzt muss ich extra noch mal los und zum Fleischer, damit du was zu Mittag hast.«
Der Geiz meiner Mutter war aus Armut geboren.
»Mach dir wegen mir keine Umstände. Ich muss gleich wieder weg.«
»Wohin denn?«
»Zurück zum Gestüt.«
»Was willst du denn da? Man drängt sich nicht Leuten auf, bei denen man nicht willkommen ist.«
Ich lachte nur und stieg ins Kinderzimmer. Jeans, weißes T-Shirt und Herrenblazer von Jil Sander hätte ich gleich heute früh anziehen sollen. Dann wäre es dem General schwerer gefallen, mir zu unterstellen, ich käme, um mir das Erbe im Minirock zu erschleichen. Der Gedanke, ich könnte nach dem Sohn den Vater haben wollen, alles nur, um an die Millionen zu kommen, die Siglinde zustanden, war so krank, dass er schon nicht mehr kränkend war. Anzunehmen, das Einzige, was eine Frau am Hause Gallion interessieren könnte, sei Geld, war schon eine besondere Form von Minderwertigkeitskomplex. Für den General war ich immer eine Erbschleicherin gewesen. Darum hatte er Todt mehr als einmal gedroht, wir bekämen nichts, wenn wir keine Kinder hätten. Irgendeine Gegenleistung musste ich schon bringen. Immer bloß Reiterhofurlaub, das ging nicht. Meinen Job als Sekretärin missachtete er ohnehin als Luxustaschengelderwerb.
Im Hausflur bat ich mir von meiner Mutter einen Hausschlüssel aus.
»Wozu?«, fragte sie. »Du kannst klingeln. Ich bin zu Hause.«
»Aber es kann spät werden.«
»Ich gehe nicht vor Mitternacht zu Bett. Und nach Mitternacht hat doch keine Kneipe mehr offen.«
»Man weiß nie, was passiert.«
»Es gibt Telefone.«
Ich verschwieg, dass ich sogar eines in der Innentasche meines Jacketts trug. »Ich will weder auf die Uhr schauen, noch nach Telefonen suchen.«
»Was hast du denn vor, was du mir nicht sagen kannst?«
»Ich will endlich in der Gosse landen, Mutter.«
Sie sah sich vorübergehend aus dem Konzept gebracht. Interessanterweise überstieg gerade die Phantasie meiner katholischen Mutter alles Erdenkliche. Je wilder die Höllendrohungen, die sie mir entgegenschleuderte, desto tiefer musste ihr Misstrauen in ihre Wirkung gewesen sein. Immer sah sie mich in der Gosse enden, zwischen Heroinspritzen und Zuhältern, wenn ich nur zehn Minuten nach der festgelegten Zeit nach Hause kam. Immer wähnte sie mich schon schwanger, wenn ein Männername fiel. Als Todt mich zum ersten Mal mit dem silbernen Porsche heimbrachte und vor der Haustür küsste, da setzte es gleich hinter der
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