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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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die Ei erstöcke der rossigen Stuten nach dem Follikel abtastete, der kurz vor dem Eisprung stand. Also rein in den Darm. Der General entblößte seinen mageren Arm, um es gestisch zu verdeutlichen, und Frau Wagner fing an zu husten.
    Nein, sag’s nicht, dachte ich, als der Alte wieder das Wort bekam.
    »Was würden wir nur ohne Hajo machen? Vielmehr unsere Stuten. Da muss doch auch unsere wildeste Stute eines Tages tragen, nicht?« Er fingerte seiner Tochter ins Haar. Sie schüttelte ihn mit hochgezogener Schulter ab.
    Es war wie früher, nur schlimmer. Hajo sagte nichts, weil er ein abhängig Beschäftigter war. Siglinde schwieg, nicht aus Mangel an Wut und Mut, sondern weil sie nicht die rhetorische Fertigkeit besaß, den Spitzen des Generals in gesellschaftlich gediegener Runde zu begegnen. Und ich duckte mich, in der Hoffnung, dass der Hausherr mich außen vor lassen würde.
    Doch zum ersten Mal fragte ich mich, wie er sich wohl fühlte, wenn er alle Blicke niederredete und am Ende nur noch gesenkte Lider sah und gegen Mauern von Trotz und Erbitterung anbellte. Vielleicht lag es an dem Abstand von fünf Jahren, dass ich in des Generals Stimme das Scheppern von Verzweiflung hörte. Vielleicht sehnte er sich nach Antworten, die er zugleich so sehr fürchtete, dass er prophylaktisch mit schwersten Geschützen über den Braten feuerte.
    Ich hob die Augen und sah, dass er mich ansah.
    »Und wie soll er heißen?«, fragte meine Mutter die Bürgermeistersgattin über den Tisch hinüber. »Haben Sie schon einen Namen?«
    »Wenn es ein Mädchen wird, Judith oder Julia, und Alexander, wenn es ein Junge wird.«
    »Hajo«, fuhr Gallion dazwischen. »Was ist das eigentlich für ein Name? Schreibt man den mit Y oder mit J?«
    Hajo blickte irritiert auf.
    Verdammt, dachte ich. Siglinde hatte ihrem Vater erzählt, dass ich beim Anblick von Hajos Unterschrift schnell und bedenkenlos auf Analphabetismus getippt hatte. Nachdem er mich und Siglinde vorgeführt hatte, sah Gallion nun die Chance, auch den Mann, den er für seine Tochter vorgesehen hatte, zu demütigen. Ich hatte es satt.
    »Hajo«, sagte ich, »ist die Kurzform von Hans-Joachim.«
    Damit erübrigte sich die Frage nach Y oder J. Gallion blinzelte. Er würde nicht das Risiko eingehen, Hajo di rekt einen Analphabeten zu nennen. Er ging nie das Risiko ein, dass ihm jemand nachwies, dass er unrecht hatte.
    »Dann heißen Sie also eigentlich Hans-Joachim?«
    »Nein, nur Hajo.«
    »Steht das so in Ihrem Pass?«
    Hajo nickte. Selbst wenn es nicht stimmte, konnte Gallion sich kaum den Pass zeigen lassen.
    »Und Lem? Irgendwie klingt das polnisch, oder irre ich mich da? Schreibt man das mit zwei M?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein«, sagte Hajo.
    »Aber Sie kommen doch irgendwo von da oben?«
    »Aus Kühlungsborn.«
    »Kühlungsbronn?«
    »Ah, Kühlungsborn«, sagte ich. »Gibt es da nicht ein ziemlich großes Gestüt?«
    »Da komme ich her«, sagte Hajo.
    »Man lernt doch nie aus«, rief der General. »Ein Gestüt, das ich nicht kenne, eine Schande. Da muss ich auf meine alten Tage doch noch mal auf Reisen gehen. Kühlungsbronn oder wie? Das muss ich mir aufschreiben. Alte Leute können sich nichts mehr richtig merken.« Er stand auf und griff sich Block und Bleistift beim Telefon. »Wo hab ich nur meine Brille? Ach, wissen Sie was, Ha jo, schreiben Sie mir das schnell auf.« Block und Stift landeten neben Hajos Teller.
    Bitte, Mama, sag was, dachte ich. Sag irgendwas, lenk den General ab.
    »Zum Häkeln brauche ich auch eine Brille, aber hören tu ich noch ganz gut«, teilte meine Mutter mit. »Erst letz te Woche hat der Arzt festgestellt, dass ich für mein Alter sogar ein außergewöhnlich gutes Gehör besitze.«
    Da die anderen am Tisch die Brisanz von Gallions Auftrag an seinen Angestellten ohnehin nicht begriffen hatten, stiegen sie eilig auf das Thema ein und steuerten Informationen zur Taubheit der heutigen Jugend bei. Gallion fühlte sich provoziert, sein Gehör zu verteidigen, nachdem er Gedächtnis und Sehleistung soeben preisgegeben hatte.
    Hajo hatte den Bleistift noch immer nicht ergriffen. Niemand konnte vom Burschen verlangen, dass er am Tisch des Bauern die Mahlzeit unterbrach. Aber im Grunde schob Hajo nur noch Kaninchenknochen mit Messer und Gabel hin und her. So schwierig, dachte ich, konnte das mit den 26 Buchstaben doch nicht sein. Er war zwar offenbar in der DDR aufgewachsen, aber doch nicht im Busch, wo er nie ein geschriebenes Wort gesehen hatte.

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