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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Für einen, der so exklusive Worte beherrschte wie Zynismus oder Sodomit, konnte es doch nicht unmöglich sein, das Zeichenbild seines Heimatorts zu reproduzieren, das er hunderte Male auf dem Ortsschild gesehen haben musste. Man musste die Zeichen bloß abmalen, notfalls aus dem Gedächtnis, und ein gutes Gedächtnis hatte er ja.
    Meine Mutter stieß zur Blindheit vor. Gallions schwarze Augen ruhten auf Hajo, der auf den Teller schaute. Ich lehnte mich zurück, sodass Gallion mich hinter Frau von Sterra nicht mehr sehen konnte, und klopfte mit der Messerspitze ganz leicht auf den Tisch. Zu hören war es nicht, aber Hajo spürte die Erschütterung unter seinen Unterarmen. Sein Blick schoss die Platte entlang zu meinem Messer. Ich malte ein K auf das Holz, für mich auf dem Kopf, für ihn richtig herum.
    Er nahm den Bleistift.
    Mangel an Mut konnte man ihm nicht nachsagen. Oder ihm war nicht klar, dass er, wenn es nicht klappte, nicht mehr einfach kommentarlos aufstehen und wegge hen konnte, ohne dass allen sein Scheitern offenbar wur de. Als er sich anschickte, das Ü auf der falschen Seite neben das K zu setzen, klopfte ich noch mal mit der Messerspitze. Nicht einmal besonders ungelenk kopierte er dann linkshändig Buchstabe für Buchstabe, während Mimi anfing die Teller einzusammeln. Derweil grübelte ich darüber, warum Pferde nicht schreiben lernten. Es hatte mit der Frage zu tun, warum sich Tiere in Urwäldern und Steppen orientieren konnten, sich Menschen aber oft in Städten und Gebäuden verliefen, selbst wenn sie dort schon einmal gewesen waren. Pferde hatten ein fotografisches Gedächtnis für Gelände. Lag an einer Mülltonne eine Mülltüte, die am Vortag nicht dort gewesen war, dann scheute so manches Pferd. Es erkannte jeden Weg, aus welcher Richtung auch immer es darauf stieß. Es hat te einen Plan von der Gegend im Kopf, exakt bis auf Steine am Wegesrand und variabel genug, um jahreszeitliche Veränderungen einzubauen. Doch genau dort, wo Pferde im Hirn die Landkarte anlegten, dort legte der Mensch sein Alphabet an, wenn er schreiben lernte. Viele verloren damit das Orientierungsgedächtnis. Dies geschah in der linken Hirnhälfte, die ihre Befehle an die rechte Schreibhand weitergab. Hajo war Linkshänder wie die meisten Pferde, die den Linksgalopp bevorzugten, und wie viele männliche Genies, etwa Leonardo da Vinci oder Einstein. Aus irgendeinem Grund war es ihm bislang nicht geglückt, die 26 oder 29 Zeichen, aus denen wir die Worte bildeten, in seinem Hirn brauchbar zu organisieren.
    Als Mimi Kuchenteller und Kaffeetassen verteilte und Apfelkuchen auftrug, schob Hajo den Notizblock von sich. Gallion hatte, das war offensichtlich, in dem Moment den Spaß an der Sache verloren, als Hajo den Bleistift ergriff. Es machte mir nichts aus, dass der General mir nun einen Blick zuwarf, der mir sagte: »Ätsch, du hast dich geirrt, der Kerl kann’s doch.«
    Kaum war die Tafel aufgehoben, verschwand Hajo, um nach der Stute Hamsun zu schauen. Siglinde verdünnisierte sich mit Mimi in die Küche. Ich kannte das auch, dieses dringende Bedürfnis, unten einen Topfdeckel an die Wand zu werfen oder sich in der Stille einer Toilette auf den Finger zu beißen. Ich trat auf den Balkon, der seitlich am Haus über dem Durchgang zu den Westwei den hing. Wenn man sich ans Ostende des Balkons stell te, konnte man fast den ganzen Hof überblicken. Ich fragte mich wie früher oft, was der General wohl sagen würde, wenn ich mich hinunterstürzte. »Macht nichts, die Stute war sowieso güst.«
    Mimi und Siglinde brachten endlich Obstler und Schnapsgläser. Hajo erschien wenig später. Siglinde fragte ihn mit Blicken, er deutete ein Kopfschütteln an. »Noch nicht so weit.« Seine Nervosität war nicht recht einleuchtend, wenn man sie auf die tragende Stute bezog. Die meisten Stuten fohlten nach Mitternacht ab, wenn es am ruhigsten war. Und sie brauchten in der Regel menschliche Ammendienste nicht. Hajos Augen wussten nicht so recht, ob sie mir ausweichen oder an mir hängen bleiben sollten. Siglinde lächelte viel zu viel, wie jemand, der nicht zeigen will, dass er sich fürchterlich geärgert hat.
    Der General beobachtete mich von hinten, ich fühlte es und richtete, um mich abzulenken, an Hajo die Frage, ob er bei jeder Fohlengeburt dabei sei.
    »Wollt ihr euch nicht endlich duzen?«, stieß Siglinde mit Schnapsgläsern dazwischen.
    Wir hoben die Gläser darauf.
    »Weißt du, Hajo«, sagte Siglinde, »jetzt kann ich es

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