Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
der Schnauze bös in die Wiese gegenüber, hoppelte über Maulwurfshügel, ratschte unters Gezweig eines Apfelbaums und krachte gegen den Stamm. Die Zweige brachen sich an der Kante der Windschutzscheibe und schlugen mir kleine Äpfel und Blätter ins Gesicht. Ich nehme an, meiner Mutter auch.
    Die Bremse hatte nicht funktioniert. Ich war wie gelähmt von Erinnerung. »Die Bremse!«, sagte Todt, nein, schrie er, und schon schossen wir über die Wiese in den Birnbaum.
    Und meine Mutter? Ich sah ihre Augen schon durchstochen von Ästen, das Figürchen geköpft. Es war viel Blattwerk zwischen uns, das ich beiseitekämpfte. Sie saß ganz still, Holzknöchlein im Dutt. Aber die Lippen bewegten sich. Sie betete, also lebte sie.
    »Du hättest uns umbringen können, Kind!«
    »Die Bremse hat nicht funktioniert. Bist du verletzt? Tut dir was weh? Nicht bewegen. Warte, ich hole dich raus.«
    Ich schlug mich durchs sperrige Gezweig auf den Rücksitz und hinten übers Heck hinaus. Dann tauchte ich wieder unter den Apfelbaum und wuchtete die Beifahrer tür auf. Meine Mutter fiel mir entgegen. Ich zog sie unter dem Geäst hervor und stellte sie auf die bucklige Wiese. Sie stand. Sie probierte Beine und Füße. Es funktionierte.
    »Die schöne Bluse!«, sagte sie.
    »Ich kauf dir eine neue.«
    Ein Zweiglein hatte ihr eine kleine Wunde in die Stirn geschlagen. Der Blutstropfen, der herausquoll wie die rubinroten Tropfen aus dem Leib des heiligen Sebastian überm Sofa, schnürte mir die Kehle zu. Hemmungslose Reue und gewaltige Trauer überwältigten mich. Beinahe hätte ich sie getötet. Beinahe wäre es mir gelungen. Aber der bonbonfarbene Schutzengel aus dem Wohnzimmer war stärker gewesen als die unbewussten Tötungswünsche der Tochter. Gott sei Dank.
    »Du bist wirklich in Ordnung, Mama?«
    Da kam auch schon der Fahrer des anderen Wagens über die Straße auf die Wiese. Das Karohemd flatterte ihm über dem Gürtel. »Was fällt Ihnen ein?« Ihm wurde klar, dass er zwei Frauen gegenüberstand. »Sie haben wohl den Führerschein im Lotto gewonnen.«
    »Die Bremse hat versagt«, sagte ich.
    »Ach was, Sie haben Bremse und Gas verwechselt.«
    Es war klar, die Polizei musste her. Der GTI des jungen Mannes hing mit zwei Rädern im Straßengraben. Eine Befreiung aus eigener Kraft war nicht mehr möglich. Ich kroch noch einmal unter den Baum, um meine Handtasche zu suchen. Emma knisterte leise. Die Motorhaube war aufgeworfen. Totalschaden nannte man das wohl. Ich strich ihr übers Blech. Das gefiederte Ebereschenblatt, das ich zwischen Schutzblech und Kühlerhaube hervorzog, war nicht aus diesem Baum gefallen. Ich probierte das Handschuhfach, in dem sich der Hebel für die Motorhaube befand. Wieder einmal hatte ich es nicht abgeschlossen gehabt.
    Auf der Landstraße hielt ein zweiter Wagen, ein Audi. Ich rief über Handy die Polizei. Inzwischen kam der Au difahrer auf die Wiese. Seine Frau winkte vom Straßenrand. Meine Mutter kannte sie. Ich begriff nicht, wen sie mir da vorstellte, irgendwelche Leute mittleren Alters aus ihrer Gemeinde, aber sie erboten sich, meine Mutter heimzubringen. Der GTI-Fahrer erklärte sich einverstanden. Ich war zu gelähmt, um meiner Sorge Ausdruck zu geben, dass meine Mutter allein daheim einem Schock erliegen könnte. So blieben der GTI-Fahrer und ich an der dunklen Landstraße zurück. Er kaute Pfefferminzkaugummi.
    Ich zitterte mir eine Zigarette rein. Wie viel Alkohol hatte ich eigentlich getrunken? Wie oft bekam die Polizei die Geschichte von versagenden Bremsen zu hören, wenn die Flitzer zu Seiten der Landstraße in den Gräben und Bäumen hingen? Emma ist tot, dachte ich und hatte das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Es war logisch nicht zu erklären. Es war ein ungutes Gefühl, unter dessen Decke sich die Ungereimtheiten meines Lebens regten. »Geh mir aus dem Weg«, hatte der General vorhin gesagt, und ganz nah hatte ich eben meine Mutter an den Tod gefahren, nachdem wir einen so unbeschwerten Nachmittag beim Einkaufen verbracht hatten. Nur gut, dass wir es heute getan hatten, denn jetzt hatte ich kein Auto mehr. Derartige Dinge zwischen Banalität und Tragik gingen mir durch den Kopf, als ob es galt, das Eigentliche zu unterdrücken: Warum hatte Emmas Bremse versagt? Warum hing sie im Baum wie vor fünf Jahren Todts Porsche? Warum wiederholte es sich?
    Ein Streifenwagen aus Vingen landete an. Zwei Polizisten stiegen aus, ein Jungbulle und ein Älterer mit grauem Schnauzer und steiler

Weitere Kostenlose Bücher