Pferdesommer mit Lara
Arne gelegentlich Ausritte auf Jago und Fee zum Waldsee gemacht hatte. Der Wallach kannte also den Weg. Ich konnte mir vorstellen, dass er lieber durch eine Gegend lief, die ihm vertraut war, als irgendwohin ins Ungewisse.
Während ich nach ihm Ausschau hielt, ging mir seine Geschichte durch den Sinn, eine von vielen traurigen Pferdegeschichten; auch wenn es bei Jago ein Happy End gegeben hatte.
Arnes Vater hatte den Wallach von einer Frau gekauft, die ihn wegen seiner Hufrollenentzündung unbedingt loswerden wollte. Sie hatte ihn schon halbwegs einem Händler versprochen, der Schlachtpferde für Frankreich aufkaufte. Gerade noch rechtzeitig war Herr Theisen auf ihn aufmerksam geworden.
Jago war von tiefem Misstrauen gegen alle Zweibeiner erfüllt. Die einzigen Menschen, denen er vertraute, waren Herr Theisen, Arne und Elisa; und Arnes Vater liebte er wie nur selten ein Pferd seinen Besitzer.
Jetzt wo sich der Sommer seinem Ende zuneigte, lag der Waldsee in tiefem Frieden zwischen den Tannen und Kiefern. Zerrissene Dunstschleier schwebten über dem goldbraunen Moorwasser. Enten quakten und im Röhricht sang ein Vogel; sonst war es sehr still.
Ich lauschte auf jedes Geräusch, spähte nach jedem Schatten, jeder Bewegung zwischen den Bäumen. Hinter dem Schilfgürtel, irgendwo im Waldesinnern, schimpfte ein Eichelhäher, als wäre ein Eindringling unterwegs. Dann glaubte ich, so etwas wie ein Schnauben zu hören, stoppte, stieg vom Rad und horchte.
In diesem Augenblick piepste das Handy in meiner Jeanstasche. Das Geräusch durchschnitt die Stille wie ein Paukenschlag. Hastig drückte ich auf die grüne Taste und lauschte dabei weiter zum Wald hinüber, bis ich Arnes Stimme hörte.
Sie klang schwach und ziemlich verzerrt. »Wo bist du?«, fragte er. »Ich hab ihn noch nicht gefunden und Elisa kann ich nicht erreichen.«
»Ich stehe am Waldsee. Und eben dachte ich, ich hätte ein Schnauben gehört, aber dann hast du angerufen.«
»Lass das Handy eingeschaltet, ruf nach Jago und warte!«
Jetzt hörte ich wieder etwas. Es klang wie gedämpftes Schnauben. Ich hielt den Atem an und dachte: Ich hab ihn! Dann begriff ich, dass das Geräusch aus dem Handy kam.
»Das war gerade Fee«, sagte Arne undeutlich. »Aber Jago reagiert bestimmt auf seinen Namen, wenn du ihn rufst. Versuch’s mal.«
Ich rief: »Jago! Guter Junge! Jago, bist du hier irgendwo?«
Dann lauschte ich wieder. Die Tierlaute um mich her, der Schrei des Eichelhähers, das Quaken der Enten und der Gesang des Teichrohrsängers waren verstummt. Irgendwo in der Ferne tuckerte ein Traktor. Nichts.
Ich hob das Handy wieder ans Ohr, um Arne zu sagen, dass ich mich getäuscht haben musste. In diesem Augenblick bemerkte ich eine Bewegung am anderen Ende des Sees, dort, wo der Schilfgürtel an den Wald grenzte. Ein heftiges Rascheln ging durch die Blätter und Halme. Noch während Arnes Stimme undeutlich an mein Ohr drang, sah ich, wie eine große Nase in den Dunstschleiern über dem Schilf auftauchte.
Mein Herz klopfte wie verrückt. »Ich hab ihn!«, flüsterte ich ins Handy. »Er ist da!«
»Was hast du gesagt?« Arnes Stimme klang wie vom anderen Ende der Welt, brüchig und dünn.
»Er ist da!«, zischte ich. »Hörst du mich? Komm sofort her!«
»Was? Du hast ihn? Ruf ihn weiter, rede mit ihm, aber komm ihm nicht zu nahe, erschrecke ihn nicht! Ich reite jetzt los, wart auf mich!«
»Wie weit bist du weg? Wie lange dauert es?«, fragte ich noch, doch er hörte mich schon nicht mehr. Die Verbindung war unterbrochen.
Jetzt durfte ich nichts Falsches tun. Es kam mir vor, als hätte ich eine Bewährungsprobe zu bestehen. Jagos Kopf war noch da, die weißlich graue Nase, die gescheckte Stirn inmitten eines Dschungels aus Blättern, Zweigen und Halmen. Durch die Dunstschleier sah er zu mir herüber. Seine Ohren bewegten sich unablässig und verrieten seine Anspannung.
»Hey, Jago, braver Junge!« Ich gab mir Mühe, nicht zu laut zu rufen, um ihn nicht zu erschrecken, aber doch laut genug, dass er mich hören konnte. »Bleib, wo du bist, dir passiert nichts. Arne und Fee kommen gleich und bringen dich nach Hause.«
Er reckte den Hals und beobachtete mich wie eine misstrauische Wildkatze den Jäger. Ich wagte nicht, mein Fahrrad ins Gras zu legen, blieb wie angewurzelt stehen, ließ ihn nicht aus den Augen und redete unaufhörlich in beruhigendem, einschmeichelndem Ton, wobei ich ständig seinen Namen wiederholte.
Wenn nur jetzt das Handy nicht piepst!,
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