Pflicht und Verlangen
bewusst. Aber warum sollte sie wegen Terency so in
Verzweiflung geraten? So sehr er auch über die Gründe für
ihre unübersehbare Angst nachdachte, er konnte sich keinen Reim
darauf machen, war sich aber sicher, dass Charlotte sich niemals so
fassungslos gezeigt hätte, wäre kein wirklich triftiger
Grund vorgelegen. Oder hing es doch mit dem anderen Schreiben
zusammen?
Schließlich
faltete er ratlos den Brief zusammen, verwahrte ihn in seiner
Brusttasche und verließ die Bibliothek, um wieder ins
Frühstückszimmer zurückzukehren, wo sicher schon seine
Gattin auf ihn wartete.
» John!«,
der vorwurfsvolle Ausruf seiner Ehefrau begrüßte ihn schon
auf der Schwelle des Raumes. Er musste kurz gegen den Impuls
ankämpfen, gleich wieder kehrtzumachen, nahm sich dann aber
zusammen und trat ein.
Mit
einem nur angedeuteten Kuss auf die Wange begrüßte er sie
und wünschte ihr einen guten Morgen.
» Wo
warst du gestern die ganze Zeit?«, fragte Gwendolyn
Battingfield in ihrem typischen quengelnden Tonfall. »Ich habe
den ganzen Abend auf dich gewartet!«
Er
antwortete mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung, in der
von dringenden Gesprächen mit einigen Pächtern die Rede war
und kam sich dabei sehr schäbig vor. Seine Gattin bedachte ihn
berechtigterweise mit einem misstrauischen Blick, doch dann schob sie
mit einer entschlossenen Bewegung ihr Frühstücksgedeck in
Richtung Tischmitte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
» Ich
habe unerhörte Neuigkeiten«, begann sie mit einem
verheißungsvollen Lächeln, das ihn irritierte. Was könnte
Gwendolyn ihm schon an Neuigkeiten berichten? Dann aber entsann er
sich, dass Dr. Fowler am Vortag bei seiner Frau vorgesprochen hatte.
» Tatsächlich?«
Er hob die Augenbrauen und wartete auf ihre Eröffnung.
» Ich
bin endlich schwanger, mein Lieber!«, sagte sie mit deutlichem
Triumph in der Stimme, der ihm nicht recht zu dieser Nachricht zu
passen schien, doch konnte er Dank oder Zuneigung erwarten? »Und
nun kannst du nichts mehr gegen unsere Reise einwenden«, fuhr
sie fort, offenbar enttäuscht darüber, dass er nicht sofort
in Jubel ausbrach. »Ich möchte unverzüglich nach
London aufbrechen, nach Wellesley House, und du wirst mich begleiten.
Das ist deine Pflicht!«
John
Battingfield war sprachlos. Damit hatte er nun wirklich nicht
gerechnet. Diese Nachricht war ein neuer Schock für ihn. In der
vergangenen Nacht noch hatte er in seiner finstersten Verzweiflung
erwogen, um die Scheidung seiner unglücklichen Ehe zu ersuchen,
obwohl er wusste, dass ein solcher Schritt sowohl das
gesellschaftliche Aus bedeuten wie auch eine mögliche
Fortsetzung seiner Marinekarriere unmöglich machen würde
und darüber hinaus mit enormen rechtlichen Problemen behaftet
war.
Gwendolyn
erwartete ein Kind! Damit war sein Schicksal endgültig
besiegelt; die Nachricht kettete ihn an seine Frau. Es war jetzt
vollkommen unmöglich, sie zu verlassen. Das hätte einen
Skandal ungeahnten Ausmaßes provoziert. Charlotte aber zu
seiner Mistress zu machen und entsprechend auszuhalten, wie man es in
gewissen Kreisen in London als gangbaren Weg erachtete, war für
einen Menschen von der charakterlichen Beschaffenheit Charlottes
einfach undenkbar. Das hatte schon Walter ganz richtig erkannt.
Gerade darum liebte er sie. Auch er verachtete die moralische
Doppelzüngigkeit der Gesellschaft zutiefst, hatte sich immer mit
Grausen abgewandt. Doch nun war er selbst unversehens in eben eine
solche prekäre Lage geraten. Wie hatte es nur so weit kommen
können?
Er
schluckte und rang einen Augenblick um Fassung, dann richtete er
bedachte Worte an seine Gattin: »Das ist eine Überraschung,
meine Teuerste. Ich freue mich sehr für dich, da du es dir ja so
gewünscht hast. Und ich werde mein Versprechen dir gegenüber
einlösen und mit dir nach London fahren. Ich nehme an, du willst
bis zur Niederkunft dort bleiben?«
Sie
schien mit seiner Reaktion nicht zufrieden zu sein. Er konnte es ihr
nicht verübeln. Sicher hatte sie mehr Enthusiasmus erwartet.
Erneut wanderte ein Schatten von Misstrauen über ihr Gesicht.
» Ich
habe es auch Miss Millford erzählt. Sie hat daraufhin sofort
vorgeschlagen abzureisen, was ich auch für sinnvoll hielt«,
sagte sie lauernd. Es wurde ihm schlagartig bewusst, dass Gwendolyn
nun offenbar doch endlich Verdacht geschöpft hatte. Er war
einfach ein beklagenswert schlechter Lügner. Er hätte sich
für seine Unvorsichtigkeit ohrfeigen können. Das
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