Pflicht und Verlangen
Banning von ihren verborgenen, größeren
Ängsten zu berichten. Davon, dass sie fürchtete, das
nächste Opfer Terencys zu werden. Denn warum sollte dieser sonst
die Frechheit besitzen, wieder aufzutauchen und sie auch noch
ausdrücklich zu dieser grässlichen Fuchsjagd einzuladen?
Was hatte er vor?
Die
Furcht vor diesem Mann schnürte ihr mehr und mehr die Kehle zu.
Dr. Banning in seiner humanen Gesinnung kam wohl gar nicht auf einen
solchen Gedanken und bemerkte ihre aufsteigende Furcht nicht. Er
wechselte zu einem weiteren Problem, das sie noch nicht bedacht
hatte.
» Wenn
Sie nun abreisen, Miss Charlotte, was wird dann aus der Arbeit am
Nachlass Ihres Vaters? Werden Sie uns hier weiterhin besuchen kommen
und die Sache abschließen?«, fragte er väterlich.
Es
tat Charlotte in der Seele weh, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagen
konnte, aber wie sollte sie ihr allergrößtes Geheimnis
jemals jemandem beichten? Deshalb antwortete sie ausweichend: »Ich
fürchte, das wird nicht möglich sein. Die Arbeit ist
ohnehin bald getan. Außerdem werden der Baron und Lady
Battingfield«, sie verschanzte sich innerlich hinter dieser
förmlichen Anrede, »schon sehr bald nach London abreisen.
Lady Battingfield teilte mir heute Abend mit, dass sie guter Hoffnung
ist und die Zeit bis zur Niederkunft im Kreise ihrer Familie in
London zu verbringen gedenkt.«
» Potzblitz!
Das sind ja Neuigkeiten! Weiß John es schon?« Banning war
aufgesprungen.
» Das
kann ich nicht sagen«, meinte Charlotte zurückhaltend,
»sicher ist jedoch, dass sie abreisen werden. Das war ohnehin
geplant. So kann ich meine Arbeit leider nicht mehr ganz zu Ende
bringen.«
» Ach,
meine liebe Miss Charlotte, Sie haben sich schon so viel Mühe
damit gegeben. Es wäre ein Jammer und ein echter Verlust für
die Wissenschaft, die Dinge nun ruhen zu lassen«, sagte Dr.
Banning und besann sich einen Augenblick. »Ich hatte Ihnen
zugesagt, dass ich die Arbeit übernehmen werde. Trotzdem haben
Sie das meiste getan. Sie haben mich ganz beschämt. Und nun ist
es an der Zeit, dass ich mein Versprechen einlöse. Es wird nur
etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen als wenn Sie es getan hätten.«
Er
trat zu ihr und meinte mit einem aufmunternden Lächeln: »Ich
will gleich morgen einen Brief an das British Museum schreiben und
die Sammlung ankündigen. Es wird wohl noch gut und gerne zwei
Monate in Anspruch nehmen, bis ich alles abgeschlossen habe, aber es
ist sicher sinnvoll, schon jetzt mit den zuständigen Herren zu
besprechen, wie ich die Dinge am besten in Angriff nehmen soll. Ich
bin sicher: Sie dürfen auch einiges an finanziellen Mitteln
erwarten, Miss Charlotte. Sobald ich Näheres weiß, werde
ich Ihnen schreiben.«
Auch
Charlotte war aufgestanden. Prüfend blickte sie aus dem Fenster.
»Der Regen hat nachgelassen. Ich werde mich nun auf den Rückweg
machen, da ich morgen sehr früh aufbrechen werde. Mein lieber
Dr. Banning, Sie sind ein wirklicher Engel. Ich bin froh, dass ich
Sie einen Freund nennen darf. Leben Sie wohl!«
» Sie
auch, mein Kind« Er bedachte sie mit einem Blick, in dem
Wohlwollen und Besorgnis lag. »Passen Sie auf sich auf, und
seien Sie selbstbewusst. Keiner hat das Recht, Sie zu bedrängen,
auch eine Lady Millford nicht. Wehren Sie sich, wenn es sein muss.
Versprechen Sie mir das?«
Die
Angesprochene lächelte unsicher: »Ich werde es mir merken.
Und, Dr. Banning, Sie müssen mir auch etwas versprechen: Bitte
verraten Sie niemandem etwas von unserem Gespräch.«
» Das
ist die Pflicht eines Seelsorgers, das wissen Sie doch sicher, mein
Kind!«, versicherte Banning, wunderte sich aber etwas über
diese dringende Bitte. Warum war diese selbstverständliche
seelsorgerliche Verschwiegenheit ihr denn so wichtig, dass sie es
extra noch einmal ansprach?
Charlotte
neigte dankend den Kopf, reichte ihm die Hand, knickste und schickte
sich an, den späten Besuch nun zu beenden. Es war alles gesagt.
Obwohl Banning sich ausdrücklich anbot, sie nach Dullham Manor
zu begleiten, ging sie nicht darauf ein. Sie befürchtete,
dadurch in eine weitere schwierige Situation zu geraten. Sicher würde
er mit seinem Freund sprechen wollen. Doch John Battingfield
womöglich erneut gegenüberzutreten und das angesichts all
der überbordenden Gefühle, die sie eben noch in seiner
Gegenwart überwältigt hatten, überstieg ihre letzten
verbliebenen Kräfte. Deshalb zog sie es vor, allein zu gehen.
Dass der alte Pfarrherr dies mit Sorge sah, durfte sie jetzt
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