Pflicht und Verlangen
verwandelte nach Jahr und Tag. Und sicher – Gwendolyn
Wellesley hatte unbestreitbar wenigstens körperliche Reize.
Trotzdem wusste er jetzt, dass er damals einen entscheidenden Fehler
gemacht hatte. Einen Fehler, den er nun mehr denn je bereute. Einen
überaus folgenschweren Fehler, der nun zwischen ihm und dem
Menschen stand, den er als sein wahres Gegenüber, sein fehlendes
Passstück empfand; der Frau, die ihm wahrhaftig mehr bedeutete
als sein eigenes Leben. Und diese hatte ihn verlassen, weil er im
entscheidenden Augenblick seinen Gefühlen hilflos nachgegeben
und versagt hatte.
Als
er endlich für einige wenige Stunden in einen unruhigen Schlaf
gesunken war, hatten ihn schlimme Träume gequält, sodass er
schließlich übernächtigt und zerschlagen aufgestanden
war.
Nun
saß er allein vor seinem Tee und dem erkalteten Toast und
begann sich zu fragen, was seine Charlotte – er nannte sie in
seinen Gedanken immer noch »seine« Charlotte, obwohl sie
das nie mehr sein würde und eigentlich auch niemals wirklich war
– am Vortag so fassungslos hatte reagieren lassen. Es hing mit
den beiden Briefen zusammen, die sie gestern erhalten hatte. Den
einen hatte sie eingesteckt, daran erinnerte er sich genau, aber das
zweite Schreiben musste eigentlich noch in der Bibliothek liegen, wo
sie es zurückgelassen hatte, als sie vor ihm weggelaufen war. Ob
es ihm erlaubt war, wenigstens zu verstehen, was sie so geängstigt
hatte? Er erwog diese Frage einen Augenblick, doch dann obsiegte der
Wunsch, zumindest auf diese Weise noch einen kleinen Moment an ihrem
Leben teilnehmen zu können. Kurz entschlossen stand er auf,
verließ das Zimmer und machte sich auf den Weg in die
Bibliothek. Als er den ehrwürdigen Raum betrat, war es ihm, als
wäre ihre Anwesenheit noch immer spürbar. Er sah sie wieder
vor sich, wie sie da auf dem Boden gekauert hatte, völlig außer
sich, so hilflos und in Tränen aufgelöst, dass er nicht
anders hatte handeln können. Wenn er noch einmal die Wahl gehabt
hätte, er würde es wieder getan haben, obwohl er nun
wusste, was dem gefolgt war. Er schüttelte unwillkürlich
den Kopf, um das Bild zu verscheuchen. Tatsächlich lag dort auf
dem Boden noch der geheimnisvolle Brief. Schnell ging er hinüber,
hob ihn auf und las hastig die Zeilen, die Lady Millford an Charlotte
geschrieben hatte. Der rüde Tonfall der Worte erfüllte ihn
mit heißer Empörung. Wie konnte diese Frau es wagen, so
mit ihr umzuspringen? Umso mehr, als die Vorwürfe und
Beleidigungen, die ihm aus diesen wenigen Zeilen entgegenschrien,
völlig unberechtigt waren und sie hart getroffen haben mussten.
Charlotte hatte sich ihm gegenüber nur sehr verhalten über
die Differenzen zwischen ihr und ihrer Tante geäußert,
aber nun wurde ihm das wahre Ausmaß der Ablehnung, ja
Verachtung bewusst, die ihr auf Millford Hall entgegenschlug.
Er
brauchte geraume Zeit, um sich wieder zu beruhigen. Dann jedoch
begann er sich zu fragen, ob allein die Worte Lady Millfords
Charlotte so hatten verzweifeln lassen. Bei Lichte betrachtet war das
eher unwahrscheinlich, denn es war ja auch schon vorher zu solchen
Angriffen seitens Lady Millfords gekommen und Charlotte hatte
trotzdem einen bemerkenswert klaren Kopf behalten, sich nicht einmal
dazu hinreißen lassen, sich zu beschweren.
So
gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder hatte Charlotte die
Fassung verloren, weil sie Dullham Manor und die Arbeit, die sie
liebte, zurücklassen musste. Vielleicht bedauerte sie es aber
auch – sein Herz machte einen kleinen Sprung bei diesem
Gedanken – ihn verlassen zu müssen. Aber hätte sie
ihn dann nicht angefleht, dass sie bleiben dürfe, dass er ihr
Zuflucht gewähren solle? Dies war mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit also nicht der Grund für ihren Kummer
gewesen. Oder hing es in irgendeiner Form mit dem angekündigten
Besuch dieses Mr Terency zusammen? John wusste, dass the right
honourable Gaylord Terency, dritter Sohn des Marquis of Hastings,
ein entfernter Verwandter seiner Gattin und ein Angehöriger des
Hochadels war, persönlich aber war er ihm nicht näher
bekannt. Er erinnerte sich, dass er ihn auf dem Ball mit Charlotte
hatte tanzen sehen und dass er der Auslöser für den kleinen
Eklat beim Klaviervortrag gewesen war. Hatte er ein Auge auf
Charlotte geworfen? Das war durchaus möglich, denn sie war
wahrhaftig eine überaus anziehende junge Frau. Dass sie außer
ihm auch andere Männer betören könnte, war ihm leider
nur zu
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