Pflicht und Verlangen
ahnte, worin diese Last bestand.
Sie
beschloss notgedrungen, sich so gut es irgend ging zu fügen und
die Vorstellungen ihrer Tante zu erfüllen. Und wenn dies
bedeutete, herausgeputzt wie ein Pfau auf diesem Ball zu erscheinen,
dann würde sie dem eben Folge leisten.
Fröstelnd
zog Charlotte die Schultern hoch. Es war spät geworden, das
bemerkte sie am Lichteinfall zwischen den Bäumen, und sie befand
sich noch tief im Wald. Sie wollte nicht von der hereinbrechenden
Dunkelheit überrascht werden, denn die Abende wurden nun doch
schon empfindlich kalt und das Gelände war ihr noch nicht
vertraut. Es war höchste Zeit umzukehren.
Sie
orientierte sich kurz und begann dann den Rückweg zum Hauptpfad
anzutreten. Es war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, sich
immer und überall Landmarken einzuprägen, dass sie
keinerlei Bedenken hatte, ihren Weg nach Millford Hall
zurückzufinden. Doch plötzlich war von einigen Yards hinter
ihr auf dem schmalen Fußpfad Hufschlag zu hören. Sie
erschrak. Dass ihr hier mitten im Wald ein fremder Reiter begegnen
musste, und das zu dieser doch schon recht späten Tageszeit, war
ihr einigermaßen unangenehm.
Charlotte
erwog, sich ins Gebüsch zurückzuziehen, um eine Begegnung
zu vermeiden, stellte aber im Umsehen fest, dass der Reiter sie
ebenfalls bereits entdeckt haben musste. Es machte also keinen Sinn
mehr sich zu verbergen, um dem unbekannten Reiter aus dem Weg zu
gehen. Tatsächlich zügelte der Fremde sein Pferd und
schloss zu ihr auf.
» Guten
Abend, Miss, haben Sie sich verlaufen?«
Der
Reiter war ein Mann mittleren Wuchses von etwa zweiunddreißig
oder dreiunddreißig Jahren. Offenbar ein Gentleman, wie
Charlotte erleichtert an seiner Kleidung und dem edlen Reittier samt
Sattelzeug feststellte. Sie sah zu ihm auf und bemerkte seine
ehrliche Besorgnis.
» Nein,
Sir! Ich weiß gut, wo ich mich aufhalte. Ich bin auf dem Weg
nach Millford Hall. Ich denke, es sind noch etwa eineinhalb Meilen in
nordwestlicher Richtung von hier und ich müsste in etwa
achthundert Yards auf den Hauptpfad stoßen, der auf direktem
Wege nach Millford Hall führt. Ich schätze, in einer guten
Stunde werde ich den Herrensitz erreicht haben.«
» Da
schätzen Sie richtig, Miss …?«
» Brandon,
Charlotte Brandon, Sir!«
» Meine
liebe Miss Brandon, ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.
Darf ich mich Ihnen ebenfalls vorstellen? Mein Name ist Captain John
Battingfield. Ich bin der Nachbar der Millfords.«
Der
Reiter war unterdessen abgestiegen und verbeugte sich korrekt vor
Charlotte. »Sind Sie zu Besuch in Millford Hall?«
» Nein,
eigentlich wohne ich seit Kurzem dort. Ich bin die Nichte von Sir
Alistair. Die Tochter seiner Schwester, um genau zu sein.«
» Miss
Elisas Tochter? Na, da soll mich doch …! Verzeihen Sie, Miss
Brandon, aber bis zum jetzigen Zeitpunkt wusste keiner, und ich am
allerwenigsten, dass Miss Elisa eine Tochter hatte.« Der
Captain wirkte ehrlich erstaunt.
Das
wundert mich allerdings nicht. Lady Millford hat gründliche
Arbeit geleistet, dachte Charlotte nicht ohne Sarkasmus und musterte
ihre neue Bekanntschaft nun genauer. Er war ein recht gut aussehender
Mann, in dessen dunkles, volles Haar sich bereits vereinzelt die
ersten grauen Strähnen mischten. In seinem ebenmäßigen
Gesicht blitzten schmale, helle Augen, die Intelligenz und Interesse
verrieten. Sie musste sich mit einem leisen Anflug von ungewohnter
mädchenhafter Scham auch eingestehen, dass sie durchaus auch
seine schön geschwungenen Lippen bemerkt hatte, die von
Sensibilität und Zartgefühl zeugten. Von schlankem Wuchs,
waren seine Bewegungen von Kraft und Geschick geprägt. Kein
schlechter Abschluss für den heutigen, wenig erfreulichen Tag,
seine Bekanntschaft zu machen, dachte sich Charlotte mit einer
gewissen Koketterie und einem Interesse, das sie selbst am
allermeisten erstaunte.
Doch
sicher erwartete ihre so unverhofft gemachte neue Bekanntschaft nun,
etwas mehr über sie zu erfahren, das erforderte schon die
Höflichkeit. So begann sie ihm zu erklären: »Sir,
sicher ist Ihnen bekannt, dass meine Mutter und ihr Gatte, Mr William
Brandon, vor Jahren in Griechenland verstarben. Als ihr einziges Kind
und nunmehr Waise kam ich daraufhin nach England und wurde dank der
Güte meines Onkels in einem Institut in Surrey erzogen. Vor
Kurzem schickten nun Sir Alistair und seine Frau nach mir und boten
mir an, bei ihnen in Millford Hall zu leben.«
» Ja,
tatsächlich hat man vom Tod Ihrer
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