Pflicht und Verlangen
Empfindungen wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie
hatte es satt, diese ständige Stichelei über ihre Eltern
und ihre angeblich so schlechte Herkunft ertragen zu müssen.
Zwar war ihr Leben in Kastri einfach, aber ungleich interessanter als
hier auf Millford Hall gewesen. Ihre Tage waren angefüllt
gewesen mit interessanten Gesprächen und Forschungstätigkeit.
Mutter hatte Vater geholfen, seine Funde sorgsam zu katalogisieren,
eine Tätigkeit, die längst nicht bei allen Forschern so
gehandhabt wurde, die sich nur zu oft eher wie die heimischen
Grabräuber gebärdeten. Sie hatten Besuch bekommen von
Archäologen und Altertumsforschern aus ganz Europa. Von einem
Vegetieren konnte beileibe keine Rede sein! Es war zwar durchaus
schwierig gewesen, immer wieder einen Geldgeber für die
Forschungen ihres Vaters zu finden und sie hatten manches zu ihrem
Lebensunterhalt aus eigenem Anbau beigesteuert, aber die anregenden
Gespräche bei Tisch hatten sie um ein Vielfaches für die
Schlichtheit der Lebensumstände entschädigt. Eher erschien
Charlotte ihr Elternhaus von ungleich größerer
Kultiviertheit und Humanität geprägt gewesen zu sein als
der Millford’sche Haushalt.
Charlotte
biss sich auf die Lippen, um ihrer Tante nicht zornige Worte ins
Gesicht zu schleudern. Stattdessen griff sie nach dem Baumwolltuch
neben der Wasserschüssel, tauchte es in das kühle
Waschwasser und rieb sich hastig die Kleie aus dem Gesicht. So
abgekühlt, hielt sie es für das Beste, für heute das
Feld zu räumen.
» Betty,
es tut mir leid, ich habe schreckliche Kopfschmerzen und würde
unsere Bemühungen …«, Charlotte gelang es
tatsächlich, das Wort ohne den Sarkasmus, der ihr auf der Zunge
lag, auszusprechen, »… gerne auf morgen verschieben.
Bitte, nimm mir diese Papierdinge aus den Haaren, so schnell es geht!
Ich denke, etwas frische Luft wird mir jetzt gut tun.«
» Aber
Miss!«, Betty blickte unschlüssig zwischen ihr und Lady
Millford hin und her.
» Ich
muss schon sagen, ich finde dein Verhalten nicht eben kooperativ«,
sagte Lady Millford. »Du scheinst das verantwortungslose und
impulsive Wesen deines Vaters leider geerbt zu haben. Ich hatte den
Baronet ja gewarnt! Aber er ist nun einmal der Herr des Hauses und
ich beuge mich seinem Wunsch und werde mich nicht von dir provozieren
lassen.« Sie schwieg einen Augenblick und schaute Charlotte
feindselig an, als erwarte sie ein augenblickliches Einknicken ihrer
Kontrahentin. Doch Charlotte tat ihr diesmal den Gefallen nicht. Sie
war zu aufgebracht und starrte ebenso feindselig zurück.
» Nun,
wie du willst! Wir werden morgen unsere Vorbereitungen wieder
aufnehmen. Ich erwarte von dir, dass du dich dann mit mehr Hingabe
deinen Verpflichtungen widmest, Charlotte. Für heute bist du
entschuldigt.«
» Ich
bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet für Ihr Verständnis,
Tante«, stieß Charlotte hervor, während sie
ungeduldig begann, sich selbst diese elenden französischen
Foltermittel aus den Haaren zu entfernen. Der Schmerz, den das Reißen
auf ihrer Kopfhaut verursachte, half ihr, sich zu bezähmen.
Lady
Millford bedachte Charlotte noch mit einem letzten vernichtenden
Blick und verließ dann mit dem Schwung der Entrüstung wie
eine Fregatte unter vollen Segeln den Raum.
» Nun
beeile dich schon Betty, ich muss hier raus!«, Charlotte war
sich nicht sicher, ob sie noch länger ihre Haltung bewahren
konnte. Es war einfach zu viel. Die endlosen Vorhaltungen und das
rücksichtslose Ignorieren ihres eigenen Wesens und ihrer
Vorstellungen seitens Lady Millford hatte sie inzwischen völlig
zermürbt. Zum ersten Mal fragte sie sich wirklich, ob sie dem
enormen Druck der Prüfungen, denen sie durch diese unnachgiebige
Frau unterworfen wurde, standhalten konnte. Wäre es nicht
besser, die Segel zu streichen, die Niederlage einzugestehen und
zurückzukehren in ihr altes Leben?
Charlotte
griff nach ihrem Schultertuch und stürzte auf die Zimmertür
zu. Bettys Ruf ignorierend, stürmte sie die hintere Treppe
hinunter und beeilte sich, in den Garten hinauszukommen. Sie musste
fort von diesem Haus, von dieser Familie, von dieser Frau, die sie so
offensichtlich hasste. Der Wald musste ihr Schutz und Zuflucht sein.
Sie rannte über die sorgsam geharkten Wege durch die Parkanlage
und verließ durch das kleine südliche Tor den Garten des
ungeliebten Hauses, dem herbstlichen Wald zu, der sie mit den Armen
der knorrigen englischen Eichen zu locken schien. Hastig überquerte
sie Wiesen und
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