Pflicht und Verlangen
Weiden und überwand einige Holzgatter, bis sie
keuchend den Saum des Waldes erreicht hatte. Dort angekommen lehnte
Charlotte sich an einen der Stämme und versuchte, zu Atem und
auch wieder zu Verstand zu kommen.
Sicher,
es war kopflos von ihr, einfach davonzurennen und ganz bestimmt
bestätigte sie damit nur den Vorwurf Lady Millfords, zu impulsiv
und verantwortungslos zu sein. Eine Genugtuung für ihre
Widersacherin, die sie ihr nicht zugestehen wollte. Charlotte
schüttelte unwillig den Kopf. Ihre Lage war beklemmend
aussichtslos. Sie konnte nicht einfach gehen. Ihr altes Leben stand
ihr in Wirklichkeit nicht mehr offen. Denn würde Mrs Longbottom
nach der gescheiterten Adoption und einer entsprechenden Auskunft
seitens Lady Millfords noch bereit sein, sie wieder als Lehrerin
einzustellen? Sicher nicht! Mrs Longbottom war die Reputation ihres
Instituts sicher weitaus wichtiger als Charlottes Probleme, und eine
verstoßene Tochter aus gutem Hause war als Lehrerin undenkbar
(8). So würde ihr nur eine Bewerbung als Gouvernante bleiben.
Aber selbst das war schwierig, da ihr der Makel des
gesellschaftlichen Versagens auf Millford Hall ohne Zweifel anhaften
würde wie ein Schandmal. Wollte sie nicht völlig mittellos
und ohne Verbindungen dastehen, musste sie sich mit Lady Millford
zumindest so weit arrangieren, dass ihr ein berufliches Auskommen als
Gouvernante möglich wurde. Mit Bitterkeit stellte sie fest, dass
sich durch das Angebot ihres Onkels ihre Lage objektiv gesehen weiter
verschlechtert hatte. Hätte sie doch als Lehrkraft des
Longbottom’schen Instituts gute Aussichten auf eine Stellung in
einer der herrschaftlichen Adelsfamilien gehabt, waren ihre jetzigen
Möglichkeiten vom nicht vorhandenen Wohlwollen Lady Millfords
abhängig.
Charlotte
beschloss, einen größeren Spaziergang zu unternehmen und
sich ihre Situation in Ruhe zu überlegen. Sie musste einen Weg
finden, mit dieser Frau zurechtzukommen!
******
Die
Stille des Waldes besänftigte sie. Es gelang ihr, ihre Gedanken
zu beruhigen und sich auf die sie umgebende Natur zu konzentrieren.
Sicher würde ihr etwas einfallen, wenn sie in Ruhe darüber
nachdenken konnte. Zügig kam sie voran und erkundete Stunde um
Stunde die verschlungenen Wanderwege, die sie tiefer und tiefer in
das ausgedehnte Gehölz führten. Das Gelände stieg in
ebenmäßigem Rhythmus auf und ab und eröffnete immer
wieder überraschende Lichtungen und verborgene Waldwiesen. Die
Wanderung heiterte sie wieder auf. Es war wirklich schön hier.
Besonders der alte Eichenbestand war ein wahres Kleinod, konstatierte
Charlotte mit in Surrey geschärftem Kennerblick, als sie nun
tiefer im Wald Bäume passierte von gewaltigem Stammumfang, wenn
auch eher von niedrigem Wuchs. Wie alle typischen englischen Eichen
in Meeresnähe wirkten sie einladend und unnahbar zugleich.
Einige von den alten Gesellen mochten wohl mehrere hundert Jahre auf
dem Buckel haben und Charlotte begann darüber nachzudenken, was
diese alten Bäume wohl erzählen würden, wenn sie
könnten. Vielleicht hatte das eine oder andere seltene Exemplar,
als Eichel an einem Baum hängend, den legendären König
Alfred (9) oder wenigstens König Heinrich VIII. vorbeireiten
sehen.
Angesichts
der kontemplativen Atmosphäre kam sich Charlotte lächerlich
vor mit ihren Sorgen. Im Grunde hatte sie doch Glück gehabt mit
dem Angebot der Adoption. Immerhin bestand für sie dadurch die
Chance, sich über ihre eigentlichen Möglichkeiten hinaus
durch eine günstige Vermählung ein angemessenes Heim und
Auskommen zu verschaffen. Eine Hoffnung, die sie als Lehrkraft kaum
hegen konnte. Die Vorstellung, ihr Leben als oft genug verachtete
Gouvernante von mehr oder weniger verzogenen Adelstöchtern zu
verbringen, hatte sie niemals wirklich gelockt. Und ihren eigenen
Neigungen nachzugeben stand für sie als Frau außer Frage.
Einen Mäzen, der sie vielleicht als Musikerin gefördert
hätte, hatte sie bedauerlicherweise auch nicht vorzuweisen. So
war Millford Hall die beste aller schlechten Möglichkeiten. Sie
seufzte unwillkürlich auf. Sicher, mit ihrer Tante war nicht gut
auszukommen und es fiel ihr sehr schwer, sich in ihrer Gegenwart
zusammenzunehmen, aber sie musste es versuchen. Um ihrer selbst,
ihrer Mutter und ihres Onkels willen, der sie ins Herz geschlossen
hatte, obwohl er sie erst seit Kurzem kannte. Er schien fast auf sie
gewartet zu haben, um eine Last loszuwerden, die ihn wohl schon seit
Jahren bedrückte. Und Charlotte
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