Pflicht und Verlangen
ihm Dr. Williams seine
schlimmsten Befürchtungen. Grauen erfasste John. Er wusste nur
zu genau, was das hieß. Jedes Mal während und nach einer
geschlagenen Schlacht auf See, wenn im Unterdeck die Schiffsärzte
ihr grausiges Werk verrichten mussten, waren Amputationen an der
Tagesordnung. Die Wunden, die die Geschützfeuer verursachten,
waren grausam und verstümmelnd. Doch angesichts des
schrecklichen Geschehens der Abtrennung eines Körpergliedes und
das bei oft völlig wachem Bewusstsein des Patienten war es
schwer zu sagen, was schlimmer war – die Verletzung selbst oder
die Heilungsversuche der Ärzte. Zudem war unter den Militärs
bekannt, dass fast siebzig Prozent der Männer, die dieser Tortur
unterzogen wurden, entweder am Schock, am erlittenen Blutverlust, an
der Stockung des Blutes oder letztlich am Wundfieber starben.
Charlottes Überlebenschancen waren, abgesehen von dem Grauen,
das ihr bevorstand, tatsächlich äußerst gering.
» Ist
… ist sie bei Bewusstsein?«, fragte er den Arzt bang.
Dieser nickte. »Sie war es, aber sie hat große Schmerzen,
deshalb habe ich ihr so viel Laudanum (40) gegeben wie ich nur irgend
verantworten konnte. Sie schläft jetzt.«
» Wann
wollen Sie amputieren?«
» Sobald
wie möglich, Captain. Wenn ich noch einige Stunden warte, setzt
der Wundbrand ein. Dann wird auch die Amputation nicht mehr viel
bringen, da sie dann zu geschwächt sein wird, um sie zu
überleben. So hat sie wenigstens eine geringe Überlebenschance.«
John
stöhnte gequält auf. Doch da ertönte Lady Millfords
kalte Stimme: »Verstehe ich Sie recht, Doktor, dass meine
Nichte, wenn sie überleben sollte, ein Krüppel sein wird?«
» Wenn
Sie es so ausdrücken wollen, ja, Mylady!«, bestätigte
ihr Dr. Williams, verwundert über die Gefühllosigkeit, mit
der diese Frage geäußert wurde.
» Dann
lassen Sie es!«
» Bitte?
Ich verstehe nicht recht!«, Dr. Williams wirkte nun ehrlich
schockiert.
» Sie
verstehen sehr gut, Sir. Ich sagte: Lassen Sie es!«, Lady
Millfords ohnehin wenig freundliche Gesichtszüge verhärteten
sich zu einer eisigen Maske. »Ich bitte Sie, wem sollte so ein
Krüppel nützen? Wer wollte eine solche Trauergestalt noch
ehelichen oder sich sonst mit ihr abgeben? Sie würde mir nutzlos
auf der Tasche liegen. Geld, das ich nicht aufbringen kann! Ihr Leben
wäre verpfuscht und überdies: Sie haben mir noch nicht
gesagt, welche Kosten mir durch Ihre Bemühungen entstehen. Ich
denke nicht, dass es angesichts der ohnehin äußerst
geringen Aussichten auf einen guten Ausgang der Operation der Mühe
wert sein wird, das Geld zu investieren.«
John
verspürte zum ersten Mal in seinem Leben den starken Wunsch,
eine Frau zu schlagen. »Wie können Sie es wagen …?«,
keuchte er und brüllte dann mit der ganzen Wucht seines
angestauten Zorns: »Sie haben sich mit Terency, diesem
Frauenschänder und Mörder, gemeingemacht und ihm Charlotte
ausgeliefert. Sehen Sie sich an, was Sie erreicht haben! Sind Sie
noch nicht zufrieden, Sie herzloses, geldgieriges Weib?«
Lady
Millford lachte schrill auf: »Ach, hat sie Ihnen also auch
diese Märchen erzählt?«
» Märchen?
Sie wussten davon und haben sie trotzdem dazu gezwungen?«, John
wusste sich kaum mehr zu fassen vor Wut. »Ich schwöre
Ihnen, sollte Charlotte sterben, werde ich persönlich dafür
sorgen, dass Sie zur Rechenschaft gezogen werden«, schrie er
völlig außer sich. »Gehen Sie mir aus den Augen!
Verschwinden Sie, bevor ich mich vergesse!«
Drohend
und mit zum Schlag erhobener Hand kam er auf sie zu. Lady Millford
zeigte endlich Zeichen von Verunsicherung. Sie wich zurück und
wandte sich eilig zum Gehen, drehte sich aber in sicherer Entfernung
noch einmal um: »Mylord, ich verbitte mir, dass Sie jemals
wieder mein Haus betreten. Im Übrigen weise ich alle
Verantwortung Charlotte betreffend von mir. Soll sich um sie kümmern,
wer will. Ich werde für nichts aufkommen!« Damit verließ
sie hastig mit wehenden Kleidern die Halle.
Ein
Moment des Schweigens trat ein, in dem sich John wieder zu beruhigen
suchte, dann sagte er mit bebender Stimme: »Sie haben gesehen
wie die Dinge liegen, Doktor. Ich werde die Verantwortung für
Miss Millford übernehmen. Tun Sie, was immer getan werden muss.
Sie muss leben, verstehen Sie!«
Dr.
Williams sah ihn einen Augenblick prüfend an. »Ich bin von
Ihren guten Absichten überzeugt, Captain. Und selbst wenn Sie
mir die Übernahme der Kosten eben nicht angeboten hätten,
würde ich
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