Pflicht und Verlangen
gestern nicht einmal mehr die Zeit genommen sich zu
entkleiden, so erschöpft war er gewesen. Da der ungeduldige
Bittsteller nicht nachließ, erhob er sich endlich und öffnete
die Tür. Es war Percy Wellesley.
» Meine
Güte, Battingfield, ich stehe hier schon geschlagene fünf
Minuten und schlage fast die Tür ein! Wie können Sie nur so
fest schlafen? Das ganze Haus ist in Aufruhr, etliche der Gäste
sind bereits abgereist. Der Coroner hat Terency, Porter und die
beiden anderen heute in aller Frühe wegbringen lassen. Sie
werden in Andover dem Haftrichter vorgeführt und dann aller
Wahrscheinlichkeit nach London überführt, wo ihnen der
Prozess vom Strafrichter Seiner Majestät gemacht werden soll.«
» Gut!«
John
streckte sich und ging zurück ins Zimmer, wo er sich in aller
Seelenruhe auszog und wusch. Percy Wellesley hüpfte in
sichtlicher Erregung um ihn herum, » Gut?! Sind Sie
wahnsinnig? Was haben Sie sich dabei gedacht? Gaylord Terency ist der
Sohn des Marquis of Hastings and Chesterford und Sie lassen ihn verhaften?! Das wird unabsehbare Folgen haben, für Sie
und für die Familie Wellesley. Schließlich habe ich Sie
hierher mitgenommen.«
John
maß ihn mit kaltem Blick, während er ein frisches Hemd
anzog. »Und wenn schon! Er ist ein gemeingefährlicher
Frauenschänder und Mörder, das wissen Sie so gut wie ich.
Gestern hat er versucht, eine junge Frau umzubringen und es ist ihm
beinahe gelungen. Darüber hinaus: Sie ist bei Weitem nicht die
Erste, die ihm zum Opfer gefallen ist, aber hoffentlich die Letzte.«
» Sie
meinen diese Miss Millford, nicht wahr? Alle reden darüber.
Schlimme Sache, das gebe ich ja zu, aber deshalb so einen Skandal zu
provozieren!«
Johns
Stimme wurde schneidend: »Der Skandal ist, dass ein solches
Schwein so lange ungehindert sein Unwesen treiben konnte unter dem
Schutz seiner edlen Herkunft . Ich will gar nicht wissen, was
er auf dem Kontinent getrieben hat. Da fällt mir ein: Es war
Ihre Frau Mutter, Lady Wellesley, die ihn auf Millford Hall
einführte.«
Wellesley
wurde vorsichtiger, meinte dann aber bissig: »Und wenn es so
wäre? Vermutlich hat sie der Marquis – immerhin ihr Cousin
zweiten Grades – darum gebeten, sich für Terency nach
einer geeigneten Partie umzuschauen.«
John
merkte, wie ihm die Zornesader schwoll: »Ich glaube, Sie gehen
jetzt besser, Wellesley. Ich werde diesen Punkt noch persönlich
mit Lady Wellesley klären, das versichere ich Ihnen.«
» Dann
reisen Sie nicht mit mir ab?«
» Nein,
ich habe hier noch einiges zu tun.«
Sein
Schwager wandte sich zur Tür. »Ich möchte nicht in
Ihrer Haut stecken, Battingfield.«
» Danke,
ich fühle mich in meiner Haut sehr wohl! Guten Tag, Wellesley!«
Als
sich die Tür hinter seinem Schwager schloss, wurde John bewusst,
dass er gerade eine klare Entscheidung getroffen hatte. Er hatte sich
losgesagt von den Erwartungen, die seitens einer Familie Wellesley,
seitens des Adels, seitens einer in Wahrheit menschenverachtenden
Moral an ihn gestellt wurde. Er hatte die Bande, die ihn seit Jahren
fesselten, durchtrennt und es war richtig – zumindest richtig
für ihn selbst.
Nach
dem, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, nach dem, was der Frau
widerfahren war, die er liebte, sah er sich außerstande, weiter
die Fassade aufrechtzuerhalten. Charlotte war der doppelzüngigen
und verlogenen Moral seiner eigenen Klasse zum Opfer gefallen, einer
Moral, die zweierlei Maß verwendete und letztlich nur dem Zweck
diente, den eigenen Herrschaftsanspruch aufrechtzuerhalten. Er ertrug
es nicht länger, angesichts von Charlottes Leid umso weniger!
Diejenigen, die lautstark Wohlanständigkeit und edle Herkunft
für sich reklamierten, hatten in einem solchen Ausmaß das
mit Füßen getreten, was für ihn Grundlage von
Menschlichkeit war, dass er es nicht mehr vor sich selbst
verantworten konnte, sich mit ihnen gemeinzumachen.
» Was
wirst du jetzt tun, John Battingfield?«, fragte er sein
Spiegelbild an der Wand über dem Waschtisch. Sollte er einfach
alles in den Wind schlagen und bei Charlotte bleiben, hoffen, dass
sie gesunden würde und mit ihr fortgehen? Würde sie ihm
folgen?
Nein,
das würde sie nicht! Denn er wäre ein ehrloser Mann, wenn
er so handelte.
Da
war das Kind, das genauso auch sein Kind war. Natürlich war es
noch nicht einmal geboren und wer wusste, was sein würde.
Schwangerschaften und Geburten waren risikoreich, sowohl für die
Mutter wie für das Kind. Doch darauf zu hoffen, dass auf
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