Pflicht und Verlangen
des Problems. Wir Frauen sind viel zu sehr
darauf angewiesen, dass ein männliches Wesen für uns die
Dinge in die Hand nimmt. Gerade was mich betrifft, hat sich erwiesen,
wie fatal das sein kann«, sagte Charlotte grimmig.
» Oh,
Miss Brandon, so kämpferisch?«, Dr. Williams lachte. »Sind
Sie denn nicht zufrieden mit mir, oder gar mit Captain Battingfield?«
» Doch,
natürlich! Ich bin Ihnen beiden sogar dankbarer als ich es je
werde sagen oder vergelten können, aber Sie machen sich über
mich lustig, Sir! Es ist mir ernst damit! Sehen Sie, nur die Angst
vor dem finanziellen Ruin, der dann auch tatsächlich
eingetroffen ist, trieb meine Tante dazu, mich Terency in dieser
Weise auszuliefern. Natürlich war es falsch von ihr und ich
bedaure sehr, dass sie das auch jetzt nicht zugeben kann. Aber das
ist eine Schuld, mit der sie leben muss und nicht ich. Ich selbst
musste mich aber wider besseres Wissen in diese Lage begeben und den
ehrgeizigen Wünschen meiner Tante zu Willen sein, da ich keine
andere Möglichkeit sah – und Sie dürfen mir glauben,
dass ich einen anderen Weg gewählt hätte, wäre mir
einer eingefallen.«
Dr.
Williams wurde wieder ernst. »Verzeihen Sie mir, Miss Brandon.
Sie haben natürlich recht! Und Sie haben noch mehr recht damit,
dass Sie gegen dieses Unrecht etwas unternehmen wollen. Wenn ich
Ihnen irgendwie dabei helfen kann, werde ich es tun. Da ist übrigens
noch etwas anderes, was ich Ihnen mitteilen muss.«
Charlotte
schaute ihn fragend an.
» Der
Coroner war gestern hier, während Sie schliefen, und hat
verlauten lassen, dass die Verhandlung gegen Terency und seine
Mittäter auf Mitte Juni in London festgesetzt wurde. Er sagte,
es wäre von Vorteil, wenn Sie bis dahin soweit wieder
hergestellt wären, dass Sie vor Gericht ihre Aussage machen
können. Allerdings habe ich ihm zu bedenken gegeben, dass dies
angesichts der Vorfälle vielleicht zu viel von Ihnen verlangt
wäre. Sie sollten sich keiner Belastung aussetzen, die Sie nicht
verkraften können. Ich mache mir diesbezüglich Sorgen um
Sie.«
Die
Worte des Arztes ließen die Patientin tatsächlich sehr
erschrecken. Ängstlich starrte sie ihn an. »Werde ich
Terency dann wieder gegenübertreten müssen?«
Dr.
Williams nickte. »Das wird sich wohl kaum vermeiden lassen. Ich
könnte aber als Ihr Arzt verhindern, dass Sie sich dem stellen
müssen. Niemand kann Sie zwingen. Möglicherweise könnten
sich die Täter aber doch noch aus der Verurteilung herauswinden,
wenn Ihre Aussage fehlt. Ich denke, wenn der Richter Sie sieht, wird
ihm die Schwere der Verbrechen umso deutlicher werden.«
Charlotte
schwieg und dachte nach. Es arbeitete in ihr, das konnte der Arzt
unschwer erkennen. Schließlich blickte sie ihn an und
verkündete mit großem Ernst: »Ich werde mich ihm
stellen. Ich werde nicht zurückweichen, er soll auch jetzt
keinen Sieg über mich davontragen. Außerdem, wenn ich
schon anderen Frauen in ähnlicher Lage den Weg weisen und helfen
will, dann sollte ich doch mit gutem Beispiel vorangehen.« Sie
konnte ein kleines Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken,
doch es war ihr unumstößlicher Entschluss. Sie würde
ihre Angst besiegen und damit das Vergangene, wenn auch nicht
vergessen, so doch überwinden können. Sich Terency zu
stellen und seine Verbrechen laut und vor aller Welt beim Namen zu
nennen, war ein wichtiger Schritt dazu.
Dr.
Williams ergriff ihre Hand und drückte sie mit herzlicher Wärme.
» Sie
sind eine beeindruckende Frau, Miss Brandon und ich habe allergrößte
Hochachtung vor Ihnen. Ich bin sehr stolz, Sie zu kennen und verstehe
nun umso mehr, was Captain Battingfield so für Sie empfinden
lässt.«
Sein
Lob und die unverblümte Erwähnung von Johns Zuneigung zu
ihr ließen sie tief erröten. Dennoch tat es ihr gut, dass
sie sich hier nicht verstellen musste. »Wollen wir hoffen, dass
ich mich Ihrer Hochachtung als würdig erweise, Dr. Williams«,
sagte Charlotte bescheiden.
******
Etwa
zwei Wochen später, als man im Hause Williams zu Tisch saß,
fiel Charlottes Blick auf die elegante Jagdwaffe des Hausherrn, die
an der Wand über dem Kamin aufgehängt war. Plötzlich
hielt sie inne. Der Löffel mit dem dampfenden Eintopf verharrte
unentschlossen zwischen Teller und Mund, während die junge Frau
offenbar intensiv mit einem gedanklichen Problem beschäftigt
war.
» Charlotte,
was hast du denn?«, fragte Mary verwundert.
Diese
antwortete nicht. Sie war ganz eingenommen von ihren
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