Pflicht und Verlangen
ihr Tränen
in die Augen traten. Dr. Williams sah es und nickte verständnisvoll.
» Sie
müssen das nicht tragen, mein Kind. Es gibt auch die
Möglichkeit, einen Rollstuhl zu verwenden oder aber zwei
Krücken, die bis unter die Achseln reichen. Gleichwohl, Ihnen
wird dieses zugegebenermaßen hässliche Ding die meiste
Bewegungsfreiheit verschaffen. Ich kann Sie aber nicht zwingen. Es
ist allein Ihre Entscheidung.«
Nicht
aufgeben, du darfst nicht aufgeben, sagte sich Charlotte im Stillen.
Wenn dies ihr Los war, dann musste sie es eben tragen. Hatte sie
nicht auch Anlass dankbar zu sein, schalt sie sich tapfer, aber
leider mit wenig Wirkung.
Sie
schüttelte unwillig über sich selbst den Kopf und sah dann
den Arzt, der abwartend neben ihr saß, mit entschlossenem Blick
an, »Ich will es versuchen, Dr. Williams. Aber vielleicht
helfen Sie mir doch, dieses Ungetüm anzulegen.«
Er
zeigte es ihr behutsam und geduldig, dennoch war es unangenehm und
schmerzte, als die Gurte festgezurrt wurden. Dann half er ihr
aufzustehen und reichte ihr seinen Arm. Trotz der weichen Polsterung
war der Schmerz, der ihr das Bein hochschoss, unerwartet stark. Sie
stöhnte auf und stützte sich schwer auf ihren besorgten
Helfer, der sie mitfühlend ansah.
» Nur
ein paar wenige Schritte«, sagte er, »dann dürfen
Sie wieder ausruhen, versprochen!« Sie biss die Zähne
zusammen und tat, was er von ihr verlangte. Langsam gingen sie bis
zur Zimmerwand und wieder zurück. Charlotte war schweißgebadet.
» Das
haben Sie sehr gut gemacht, mein Kind. Captain Battingfield hatte
recht, Sie sind eine ungewöhnlich tapfere junge Frau. Sie werden
es schaffen. Ich habe gestandene Männer schreien und weinen
sehen in Ihrer Lage.«
» Ehrlich
gesagt ist mir auch danach«, gab Charlotte zu, »aber ich
will wieder auf die Beine kommen. Ich habe noch so viel vor!«
» Tatsächlich?«,
Dr. Williams schaute sie fragend an, während er ihr zurück
auf das Bett half und die Prothese abnahm. »Und was haben Sie
vor?«
Charlotte
atmete tief ein und sagte: »Ich habe viel nachgedacht, während
ich hier liegen musste. Mir ist Schlimmes widerfahren und ich bin
einem wirklichen Unmenschen zum Opfer gefallen. Aber es hätte
nicht so kommen müssen, wenn ich einen Ort gehabt hätte, wo
ich um Hilfe hätte ersuchen können. Ich wusste einfach
nicht, wohin ich mich wenden konnte. Und auch die kleine Dienstmagd,
Emmy, das arme Kind, das ihm ebenfalls zum Opfer fiel, sie hätte
sich beinahe das Leben genommen. Nur durch Dr. Bannings wie immer
hervorragende Einfälle konnte das verhindert werden. Terency
sitzt jetzt zwar im Gefängnis und ich hoffe sehr, dass er für
das, was er tat, zur Rechenschaft gezogen wird, aber wie viele Frauen
ereilt vielleicht ein ähnliches Schicksal durch andere Männer
und sie finden keine Hilfe. Mrs Sooner, unsere Köchin auf
Millford Hall, erzählte mir einst davon, wie ungerecht mit
diesen bedauernswerten Opfern umgegangen wird – besonders dann,
wenn sie nicht von hoher Geburt sind. Ich hatte mir nie darüber
Gedanken gemacht. Nun aber weiß ich, wie es einem dabei ergeht
und ich sage Ihnen, es ist furchtbar. Und dabei habe ich in allem
Unglück noch Glück gehabt. Immerhin musste ich ihm nicht zu
Willen sein.« Sie schüttelte sich unwillkürlich bei
der Erinnerung an jenen entsetzlichen Augenblick auf Millford Hall,
als Terency beinahe sein Ziel erreicht hatte. »Die Vorstellung,
dann auch noch dafür verurteilt und geächtet zu werden, ist
mir einfach unerträglich.«
Dr.
Williams sah sie ernst an: »Und Sie wollen etwas dagegen tun?«
» Ja!
Das will ich. Vielleicht ist diese Aufgabe der Grund, warum ich
überlebt habe. Durch eine glückliche Fügung bin ich
nun finanziell recht gut ausgestattet. Ich habe beschlossen, eine
Stiftung zu gründen, die Frauen helfen soll, die unverschuldet
in solche Not geraten sind. Mary habe ich schon gefragt, sie ist
begeistert von der Idee und will mir helfen!« Die letzten Worte
hatte sie mit großem Eifer gesprochen.
» Dann
wollen wir wirklich alle Mühe darauf verwenden, dass Sie bald
den Weg gehen können, der Ihnen vorschwebt. Es ist eine sehr
noble Sache, die Sie beide sich da zum Ziel gesetzt haben, allerdings
wird es sinnvoll sein, mit einem Rechtsgelehrten darüber zu
sprechen, zumal Sie beide Frauen sind. Möglicherweise ist es für
Sie als Frau rechtlich gesehen schwieriger oder gar unmöglich,
so eine Stiftung ,
wie Sie es nannten, zu gründen.«
» Sehen
Sie, dies ist ein Teil
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