Pflicht und Verlangen
Sie«,
erklärte Charlotte nun eifrig. »Natürlich wurde
hauptsächlich Apollo als Gott der Weissagung verehrt, aber auch
andere Götter hatten dort Weihestätten. Die Gläubigen
kamen von überall her und brachten dabei auch reichlich
Geschenke für die Götter mit. Schließlich war der
Besuch in der Regel ja nicht uneigennützig. Die Besucher
erhofften sich natürlich Rat und Hilfe vom Orakel und den
Gottheiten. Viele dieser Opfergaben sind allerdings für immer
verloren gegangen, wahrscheinlich geraubt. Es müssen damals
unvorstellbare Reichtümer aufgehäuft worden sein. Es gab
sogar mehrere Schatzhäuser, die einzelnen Stadtstaaten
zugeordnet waren. Die thessalischen Dynasten, also die Häuser in
Delphi, die den thessalischen Machthabern unterstanden, enthielten
die Daochos-Weihegeschenke, so nahm mein Vater an.«
» Aha«,
meinte ihr Zuhörer beeindruckt. »Sie scheinen sich ja gut
auszukennen!«
» Oh,
das würden Sie auch, wenn Sie Ihre Kinderstube zwischen alten
Säulen und Steinen gehabt hätten«, erwiderte
Charlotte lächelnd und wandte sich schon den weiteren
Fundstücken zu. Zusammen mit Dr. Banning wies sie die Helfer
sachkundig an, die Kisten zu verschiedenen Gruppen zusammenzustellen,
nach Fundorten oder Themen geordnet. Die Kälte schien sie dabei
völlig vergessen zu haben. Mit ihren geröteten Wangen und
nassen Haaren, voller Tatendrang und einer nicht zu leugnenden
Durchsetzungskraft, stand sie zwischen den geöffneten Kisten auf
dem Wagen wie eine Inkarnation der jungfräulichen Athene.
Battingfield musste sie immer wieder ansehen. Allein dieser Anblick
war es wert gewesen, den Einsatz zu erbringen, für den er sich
entschieden hatte.
Hatte
sie, als sie heute Morgen nach Dullham Manor kam, auffällig
still und zurückhaltend gewirkt, so schien sie jetzt wie
ausgewechselt. Ganz in ihrem Element, strahlte sie eine anziehende
Lebendigkeit aus, die nicht ohne Wirkung auf ihn blieb. Was war nur
mit ihm los? Diese junge Frau beeindruckte ihn weit mehr, als er sich
eingestehen durfte. Sei vorsichtig, John!, ermahnte er sich selbst,
um ihret- und um deinetwillen. Doch obwohl er umso eifriger
arbeitete, drängten seine Gedanken weiter. Charlotte Brandon
verfügte in hohem Maße über die Wesenszüge, die
er an einer Frau schätzte und wünschte: Verstand und
Talent, Mut und Gefühl. Er konnte es nicht leugnen, er genoss
ihre Anwesenheit zutiefst, mehr als es sein durfte. Doch wohin würde
das führen? Er wusste genau, er spielte mit dem Feuer. Dennoch –
er konnte einfach nicht anders!
******
» Charlotte,
soeben erhielt ich ein Schreiben, dass Mr Terency uns in drei Tagen
zu beehren gedenkt.« Lady Millford war in die Bibliothek
getreten, in die sich Charlotte seit einigen Tagen, wann immer es
möglich war, zurückzog. Sie kommentierte mit einem
Stirnrunzeln, dass ihre Nichte, bewaffnet mit Pinzette und Tüchern,
sich schon wieder über ein Buch mit schimmelüberzogenem
Ledereinband beugte, das sie unverständlicherweise in einen
besseren Zustand zu bringen hoffte.
Es
handelte sich um einen Band der persönlichen
Tagebuchaufzeichnungen von William Brandon. Charlotte hatte es
zusammen mit anderen Bänden seiner Tagebücher in einer der
Kisten mit den Bestandsbüchern, Arbeitsaufzeichnungen und Karten
der Ausgrabungen gefunden. Leider hatte sich beim Sichten der
Schriften noch am Spätnachmittag des Ankunftstages
herausgestellt, dass die unteren Lagen doch recht stark in
Mitleidenschaft gezogen worden waren. Die Kisten mussten mehrfach
feucht geworden sein oder gar im Wasser gestanden haben, was
angesichts des Standortes der Lagerhalle direkt an den Themse Docks
auch nicht weiter verwunderlich, dafür aber umso betrüblicher
war.
Sie
hatte daraufhin Dr. Banning vorgeschlagen, dass sie den ersten Band
der Tagebuchaufzeichnungen am Abend mit nach Millford Hall nehmen
würde, um dort zu versuchen, die schadhaften Teile auszubessern
und − wo notwendig − Abschriften herzustellen. Die
Tagebücher, so hatte sie angeführt, würden sicher gute
Hilfestellung geben, um die teilweise völlig unleserlichen
Arbeitsaufzeichnungen und Listen der Artefakte zu ergänzen. Denn
ihr Vater hätte immer, so erinnerte sie sich, sehr sorgfältig
auch in seinen persönlichen Tagebüchern über sein
Tagwerk berichtet, neben den privaten Dingen.
Natürlich
war dies ein sehr triftiger Grund. Aber weit mehr verlangte es
Charlotte danach, durch die Beschäftigung mit den Tagebüchern
den Geist und die Persönlichkeit
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