Pflicht und Verlangen
als Miss Elisa noch auf Millford
Hall lebte, mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder
manchmal zu Gast gewesen war und hatte als junge Küchenmagd
schon bemerkt, dass er etwas Besonderes an sich hatte. Ein
aufgeschlossenes, freundliches Wesen ohne jede Überheblichkeit,
die sonst viele Angehörige der herrschenden Klasse dem Gesinde
gegenüber zeigten, zeichnete ihn aus. Dabei war er trotzdem
ausgelassen und hatte jede Menge Unsinn im Kopf, was man ihm aber
seines Charmes wegen gerne verziehen hatte.
Auch
Miss Charlotte, so stellte sie nun fest, zeigte dieselbe
Freundlichkeit und Zugewandtheit gegenüber den Menschen in ihrer
Umgebung, gleich welchen Standes, und das nahm Mrs Sooner für
die junge Frau ein.
» Miss
Millford, also! Was treibt Sie denn hinunter in mein Reich?«,
fragte sie deshalb umgänglich.
» Liebe
Mrs Sooner, ich habe da ein Problem und hoffte, Sie könnten mir
vielleicht raten oder sogar helfen.«
» Ich
Ihnen helfen? Oh, Miss Millford, ich wüsste nicht wie?«
» Ja,
sehen Sie, Mrs Sooner, sicher ist Ihnen zu Ohren gedrungen, dass Lord
Battingfield und Dr. Banning so freundlich sind, mir beim Ordnen des
Nachlasses meines Vaters zu helfen«, begann Charlotte.
» Sicher,
mir ist so etwas zu Ohren gekommen. Sie sind letzten Mittwoch auf
Dullham Manor gewesen und deshalb zu spät zum Dinner gekommen.
Ihr ganzes Essen kam wieder zurück.«
» Allerdings,
Mrs Sooner«, bestätigte Charlotte mit einem verschmitzten
Lächeln, »und Sie glauben nicht, wie sehr ich das bedauert
habe, zumal ich nämlich dann mit einem knurrenden Magen zu Bett
gegangen bin.«
» Aber
Miss, Sie hätten doch läuten können! Ich hätte
Ihnen gerne noch etwas gemacht.« Mrs Sooner war ganz helle
Empörung.
» Ach,
es war wirklich spät geworden und Sie haben Ihre Ruhe ja auch
verdient. Ich hätte mich nicht so verspäten dürfen.
Aber genug davon. Vielleicht können Sie mir ja jetzt einen
Gefallen tun.«
Nach
Mrs Sooners freundlichem Nicken fuhr Charlotte fort: »Die Sache
ist die: bei dem Nachlass meines Vaters handelt es sich um
Ausgrabungsstücke aus Griechenland. Vieles ist noch verschmutzt
und muss gereinigt werden. Außerdem stand es sehr lange an
einem ungünstigen Ort. Es sind Schriftstücke dabei, die mit
Schimmel völlig überzogen sind und davon befreit werden
müssen, aber das muss sehr vorsichtig geschehen, da der Inhalt
der Schriften von großer Wichtigkeit ist. Nun, ich will Ihnen
nicht Ihre kostbare Zeit stehlen. Tatsache ist, dass ich selbst diese
Reinigungsarbeiten durchführen muss und das in einem ungeheizten
Lagerraum. So bräuchte ich zweckmäßige, warme
Kleidung und ein bis zwei Leinenschürzen, die groben Schmutz
aushalten könnten. Ich selbst besitze so etwas nicht mehr. Die
Garderobe, die für die neue Miss Millford angefertigt wurde, mag
zwar für einen Ball und ähnliches passen, aber nicht zum
Arbeiten. Können Sie mir helfen? Vielleicht könnte eines
der Küchenmädchen mir eine Schürze oder etwas
Ähnliches leihen.«
» Sie
wollen das wirklich selbst machen, Miss? Sind Sie sich sicher? Das
ist doch keine Arbeit für einen junge Dame wie Sie es sind.«
Mrs Sooner war fast schockiert über das Ansinnen. Eine
Angehörige der feinen Gesellschaft in den abgetragenen Kleidern
einer Küchenmagd, also das ging nun doch etwas zu weit.
» Aber
Mrs Sooner«, beruhigte Charlotte die sichtlich entsetzte
Haushälterin. »Sie dürfen mir glauben, dass solche
Kleidung für mich bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr
wirklich ganz normal war. Glauben Sie denn, ich hätte mit meinen
Eltern in Griechenland in einem Palast gewohnt? Nein, beileibe nicht!
Ich habe sogar im Stall und in unserem Garten geholfen und habe mir
genauso die Hände schmutzig gemacht wie meine Mutter, Ihre
frühere Miss Elisa. Und stellen Sie sich vor: Es hat mir Spaß
gemacht!« Dabei nickte sie der Köchin, die sie nun mit
offenem Mund anstarrte, ernsthaft zu, in dem Bestreben, sich das
Lachen zu verbeißen, das sich unaufhaltsam ihre Kehle
hinaufdrängte. Die fassungslose Mrs Sooner war einfach ein zu
komischer Anblick.
Schließlich
erholte diese sich von ihrem Schock und bemerkte praktisch: »Also,
von meinen Sachen kann ich Ihnen nichts geben, die sind Ihnen
wirklich viel zu groß, aber ich werde einmal Ruby fragen. Die
dürfte in etwa Ihre Größe haben. Sie ist vor Kurzem
zu den Zimmermädchen eingeteilt worden und hat deshalb andere
Dienstbekleidung bekommen. Sie hat sicher noch ein bis zwei Kleider
und vielleicht
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